„Bedroom Folk“©Staatsoper München, Wilfried Hösl
„Broken Fall“ thematisiert die Angst vor dem Fallen. Zwischen zwei Tänzern (Jonah Cook und Jinhao Zhang) und einer Tänzerin (Jeanette Kakareka) entwickelt sich zu lyrischer Musik im hellen Sonnenlicht menschliche Annäherung in zarten Verschlingungen und Wiegen, achtsamem Heben und Abrollen, gegenseitigem Kräftemessen und Ausbalancieren. Bei einsetzendem Sphärenklang in kosmischer Dunkelheit entsteht ein atemberaubendes Spannungsfeld zwischen artistischen Hebefiguren, Fall- und Wurfsituationen außergewöhnlichen Schwierigkeitsgrades, wobei sich latent ein Narrativ zwischen Annäherung und Distanz, Zuneigung und Befreiung auf der Basis von Vertrauen enthüllt und der körperliche Ausdruck Tanzästhetik neu auslotet.
„Broken Fall“©Staatsoper München, Wilfried Hösl
„Bedroom Folk“ folgt dem ganz speziellen Puls, mit dem Sharon Eyal international für Furore sorgte. Je vier Tänzerinnen und Tänzer bewegen sich in minimalistischer Dynamik vorwärts. Komplexe Maschine oder vibrierender Organismus? Im Wechsel choreographischer Muster verändert sich diese Menschenskulptur in der Synchronie zuckender Körperlichkeit mit expressiven Armbewegungen und Breakdance-Optik zwischen maschineller Mechanik und tänzerischer Biegsamkeit. Im feuerrot bis orangefarbenen Hintergrund multiplizieren sich die TänzerInnen in schwarzen Bodys als dunkelrote Schatten. Bewegungen erotisieren sich in gruppenweiser Synchronie, nur kurz unterbrochen von Macho-Intermezzi, bis zur rituellen Ekstase. Ein Tänzer schert aus, gibt Richtung und Tempo vor und sucht, plötzlich in Dunkelheit, den Schutz der Gruppe. Ein anderer trägt eine Tänzerin wie ein Opfer zu Grabe. Sie befreit sich, wehrt sich an der Hand geführt zu werden und erlebt das Trauma eines Würgegriffs. Erotische Energie wandelt sich in Gewalt, sprengt die Gruppe, die sich wieder im Einklang schwingender Füße formiert und wie ein Uhrpendel funktioniert.
„Bedroom Folk“ ©Staatsoper München, Wilfried Hösl
Auch wenn sich Sharon Eyals und Gay Behars Choreographien sehr ähneln, ist jede für sich immer wieder von energetischer Faszination.
Die Wurzeln des klassischen Balletts sind in Liam Scarletts Choreographie „With the Chance of Rain“ noch sehr deutlich. Der Charme von Ballettattitüden, Pirouetten und Spitzentanz wird durch moderne Tanzdetails dynamisiert. Mit raffinierten Drehungen, von Lauretta Summerscale und Jinhao Zhang mit anmutig zärtlicher Mimik und neckischer Gestik getanzt, bekommt ihr Pas de deux den Ausdruck frühlingshaften Verliebtseins, das sich durch zwei weitere Tanzpaare weitet. Nein, es gibt keine Chance für Regen, vielmehr Sonnenschein und Euphorie Verliebter.
„With the Chance of Rain“©Staatsoper München, Katja Koller
Oder doch? In plötzlicher Abdunklung folgt der Liebesfreude das Liebesleid in einer Mischung von grazilen Drehungen und wuchtigen Fall-Downs ganz im Gefühl von Rachmaninows spätromantischen Klavier-Präludien, von Konzertpianist Dmitry Mayboroda, dem neuem Ballettkorrepetitor des Bayerischen Staatsballetts, ausdrucksstark interpretiert.
„Paradigma“ ist ab heute, 6. Januar 2021, 19:00 Uhr, für 30 Tage als Video-on-Demand auf der Webseite der Münchner Staatsoper zu sehen. Ein 24-Stunden-Ticket kostet 9,90 Euro.