Noch vor der anvisierten Verfilmung brachte Thomas Ostermeier „Gewalt im Herzen“, die autobiografische Geschichte des Autors Édouardo Luis´ als deutsche Erstaufführung nach Berlin.
Thomas Ostermeier splittet die Erzählung wie in der literarischen Vorlage in mehrschichtige Rückblenden wechselt ständig zwischen Spiel- und Kommentarsequenzen, distanziert durch Mikrophone, intensiviert durch die pulsierenden Schlagzeugbeats Thomas Wittes und kristallisiert sehr gut die sprachlichen Pointen und Quintessenzen des Romans heraus.
Die Inszenierung beginnt mit der Spurensuche, die sich großflächig auf den Bühnenhintergrund projiziert kriminalistisch präsentiert, als wäre ein Mord geschehen. Der Mord wird zur Metapher. Nicht Edouard wird gemordet, aber seine Unschuld, Menschen zu vertrauen und seine Erinnerung, indem die schönen Momente durch die üblichen Fragestellungen und die damit verbundenen Perspektivveränderungen ausgelöscht werden. Édouardo klagt Reda nicht an, weil er überzeugt ist, dass eine Inhaftierung die Situation nur verschlechtern würde. Zu sehr hat ihn Redas Erzählung über seine Herkunft berührt, zu sehr widerstrebt ihm die etablierte Wahrheit.
Schritt für Schritt erfährt die Schwester, was an diesem Abend genau passiert ist. Gleichzeitig kommentiert sie mit ihrem Wissen um die Édouards Sozialisierung dessen übergestülpte Intellektualität und Schuldzuweisung an die Familie. Alina Stiegler zeichnet die Schwester zunächst als Underclass-Lady, so wie der Bruder sie sieht, ablehnt, weil er sich selbst in ihr erkennt. Doch gerade sie wird zur klug argumentierenden, souveränen Kommentatorin, die ihren Bruder in seinem intellektuellen Habitus durchschaut.
©Arno Declair
Alina Stiegler und Christoph Gawenda bringen in weiteren Nebenrollen zusätzliche Frage- und Reflexionsmomente ein, wobei Christoph Gawenda als tuntenhafte Mutter zur Ulknummer degradiert und dieser Figur die menschliche Tiefe nimmt. Genauso aufgesetzt wirken die Tanzsequenzen, flippiges Beiwerk, das erst in der letzten Sequenz durch das Einfrieren mancher Tanzbewegung der Emotionalität des Stücks entspricht.
©Arno Declair
Expressive Stärke entwickelt die Inszenierung erst in den Sequenzen mit Renato Schuch als Reda. Er bringt eine sehr authentische Umsetzung von Anmache, Flirt, Sex, Gewalt und Selbstaggression auf die Bühne.
Édouardo verkörpert durch Laurenz Laufenbergs voll das Klischee deutscher Jungenhaftigkeit. Wie ein Mädchen, nicht umsonst im rosa Pullover, normalisiert er die Homosexualität auf der Ebene spontan Sich-Verliebens und wird gerade durch seine in Szene gesetzte sanfte Naivität zum Opfertyp. Raffiniert chargiert die Begegnung zwischen möglichen Gefühlen füreinander und einseitig zielgerichteter Ausbeutung. Als Selfie plakativ Kopf an Kopf entsteht ganz kurz eine Vision des Miteinander, wenn die Blicke sich treffen, bevor die impulsive Aggression Redas alles zerstört. Reda ist bereits „Im Herzen der Gewalt“. Édouardo versucht sich davor zu schützen. Er will das Schöne dieser Begegnung in Erinnerung behalten, durch die Fähigkeit zu lügen Situationen zu verändern, etablierte Wahrheiten widerstehen. Das mag im Einzelfall eine pragmatisch subjektive Hilfe sein, gesellschaftspolitischen Probleme werden dadurch keinesfalls gelöst.
Michaela Schabel
Michaela Schabel
Regie Thomas Ostermeier
Mitarbeit Regie David Stöhr
Bühne, Kostüme Nina Wetzel
Musik Nils Ostendorf
Dramaturgie Florian Borchmeyer
Video Sébastien Dupouey
Licht Michael Wetzel
Mitarbeit Choreographie Johanna Lemke