©Staatsoper Berlin, Foto: Stephan Rabbold
Was hat die mythische Figur Cassandra mit der Klimaforscherin Sandra zu tun? Beide Frauen warnen vor bevorstehenden Katastrophen, aber…
niemand hört ihnen zu. So nimmt das Unglück seine Lauf. Cassandra erlebt die visionierte Zerstörung Trojas, Sandra, aktivistische Klimaforschern, wird Zeugin, wie das Schelfeis in den Buchten der antarktischen Alexander-I-Insel, nach europäischen Komponisten benannt, zusammenbricht. „Was für eine Welt ist das?“ Eine desaströse.
Im September 2023 wurde Bernhard Foccroulles „Cassandra“ im Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel uraufgeführt. Die Aufführung in der Berliner Staatsoper, bis auf eine Stimme SängerInnen der Uraufführung besetzt, besticht durch die gelungene Synergetik von Musik und ihrer optischen Umsetzung. Regisseurin und Filmemacherin Marie-Eve Signeyrole, von Anfang bei der Opernkonzeption ab 2020 dabei, entwickelt bildgewaltige, zugleich sehr subtile Welten, die die Musik metaphorisch visualisieren.
Wie ein Monolith steht ein großen Kubus auf der Bühne. Durch Projektionen und Live-Kamera wandelt er sich ständig, wobei das Publikum in nahtlosen Übergängen die Qual der beiden Frauen erlebt, die sehen, was andere nicht hören wollen. Eine gigantische Bibliothek bildet den umrahmenden Kontext. Anfangs leitet ein verstaubtes Buch über zur Zerstörung Trojas, später rebelliert Agamemnon beim Lesen eines Buch gegen sein tradiertes Image, das er Cassandra anlastet, ohne eine Spur von Erkenntnis, dass die Dinge anders verlaufen wären, hätte er besser zugehört.
Gleich zu Beginn stürzt der Kubus als Metapher für Troja in sich zusammen, um als gigantische Bienenwabe den Neubeginn zu signalisieren, nicht nur sichtbar, sondern auch hörbar. Flirrendes Bienengesumme von fünf ViolinensolistInnen verweist zusammen mit dem Chor der Geister der Verstorbenen leitmotivisch auf den apokalyptischen Untergang der Menschheit. Die großen Bienenschwärme reduzieren sich immer mehr, bis zur bedrückenden Stille, denn die Menschen wollen nicht einmal im engsten Familienkreis zuhören. Die Eltern sind Machtmenschen, von denselben Sängerinnen mit dunklem kräftigen Stimmvolumen gesungen, um die Typisierung zu verstärken. Sandras Schwester Naomi ist schwanger, völlig unbekümmert bezüglich der Zukunft. Ihre Eltern verdienen weiterhin durch Rohstoffe und Banktransaktionen und schädigen die Umwelt. Das Festessen versinkt im Untergrund wie das Schiff, auf dem Sandras ebenfalls ganz unbedarfter Freund Blake später untergeht.
Cassandra und Sandra werden weder argumentativ noch als Frauen, die etwas Wichtiges zu sagen haben, wahrgenommen. Cassandras Warnrufe „Ototoi popoï“ verhallen unverstanden. Im Gegensatz zu ihr ist Sandra eine aktivistische Kämpferin, die über triviale Unterhaltungsshows um das Gehörtwerden kämpft, sehr authentisch über Lacher, Klatscher und Buhrufer in den Logen und im Parkett laut hörbar.
Wenn sich die Wege der beiden Frauen am Schluss kreuzen, verschmelzen Raum- und Zeitebenen. Es ist der Moment der Kartharsis. Endlich hört jemand ihre Botschaft und eben das Zuhören wird zur Botschaft, das trotz aller Tragik Hoffnung möglich ist. „Cassandra“ ist eine durch und durch stringente und gelungene Konzeption, szenisch und musikalisch sehr ausbalanciert.
Foccroulles Partitur, in der Moderne angesiedelt, verleiht den verschiedenen Welten eine besondere musikalische Aura. Die antike Mythologie ist von Monteverdi inspiriert. Die Bienen summen gleichmäßig, aber mit abnehmender Dynamik. Die Welt der Geister offeriert sich in langanhaltenden gedehnten Tönen, die Gegenwart kontrastiert er rhythmischer und schneller. Sandras Vorträge putscht er mit Marimbaphon auf und ihr Freund Blake bleibt über seinen Tod hinaus durch das Saxophon präsent. Zum Schelfeis passend verdeutlicht Bachs Choral „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig“ menschliche Vergänglichkeit, die immer wieder durch sphärisch Tonalitäten anklingt.
Unter der musikalischen Leitung von Anja Bihlmaier klingt die Staatskapelle sehr harmonisch und insgesamt sehr ausgewogen. Der Fokus liegt auf den SängerInnen. Jessica Niles erweist sich als sehr facettenreich. Souverän singt sie die extrem hohe Partie Sandras, schrille Töne sind gewollt, Ausdruck ihrer Pein. Mit Blake, von Valdemar Villadsen sympathisch, aber etwas blass gezeichnset, gelingen sehr lyrische und subtile Szenen. Cassandra gewinnt mit Mezzosopranistin Katarina Bradiċ die Aura des Geheimnisvollen und Mystischen zurück. Hohe Tonsprünge, Dissonanzen, satte Tiefen werden zum Klangerlebnis. Kraftvolle, ausdrucksstarke Akzente setzte Sarah Defrise als Naomi. Susan Brickley und Gidon Saks zeichnen beide Mütter bzw. Väter rollenadäqaut sehr resolut und narzisstisch.
Künstlerisches Team: Anja Bihlmaier (Musikalische Leitung). Marie-Eve Signeyrole (Inszenierung), Fabien Teigné (Bühne), Yashi (Kostüme), Philippe Berthomé (Licht), Dani Juris (Chor), Louis Geisler, Elisabeth Kühne (Dramaturgie)
Mit: Katarina Bradíc (Cassandra), Jessica Niles (Sandra), Susan Bickley (Hecuba Victoria), Sarah Defrise (Naomi), Valdemar Villadsen (Blake), Joshua Hopkins (Apollo, Angry Audience Member), Gidon Saks (Priam, Alexander), Sandrine Mairesse (Stage Manager, Marjorie), Lisa Willlems (Conference Presenter), dem Chor und der Staatskapelle der Berliner Staatsoper