Berlin – Händels Oratorium „Messias“ als säkularisiertes Großprojekt der Komischen Oper im Hangar 4

Opernkritik Händels Oratorium "Messias" an der Deutschen Oper Berlin präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Komische Oper Berlin, Foto: Jan Windszus Photography

„#allesaußergewöhnlich“, in pinkfarben leuchtenden großen Lettern kommt die Losung der Komischen Oper Berlin im Hanger 4 in der Abenddämmerung bestens zur Wirkung. Seit dem umbaubedingten Umzug vom Stammhaus ins Schillertheater zu Beginn der vergangenen Spielsaison will man „Raus aus der Stadt, rein in den Kiez“, und zwar mit außergewöhnlichen Projekten. 

Händels Meisterwerk „Messias“ (1742), eine bewegende Reflexion der christlichen Erlösungsidee, mit einer Spielhandlung zu unterlegen, ist nicht nur außergewöhnlich, sondern sehr mutig, in der Realisierung ein spannender und ein sensationeller Saisonauftakt…

Händel komponierte den „Messias“ in einer krisengebeutelten Lebensphase. Angesichts der zunehmenden Bankrotte rivalisierten die Opernunternehmen. Das Londoner Publikum wurde der italienischen Oper überdrüssig und ein Schlaganfall konfrontierte ihn selbst mit der eigenen Vergänglichkeit. Die literarische Grundlage für das dreiteilige Werk zwischen Verheißung, Passion und Erlösungsbotschaft für alle Menschen sind Texte aus dem Alten und Neuen Testament, die Händel für Chor, Orchester und vier SolistInnen vertonte, die keine bestimmten Personen, sondern über die Tonlagen Emotionen vermitteln. Die Chöre haben zentrale Bedeutung. Neu war die Kombination von Arie und Chor. 

Neu bei der Inszenierung der Komischen Oper ist die Unterlegung des Oratoriums mit einer Spielhandlung. Regisseur Damiano Michieletto zeichnet das Schicksal Brittany Mayards, einer 29-jährigen Amerikanerin, nach, die wegen ihres Entschlusses infolge eines unheilbaren Gehirntumors aus dem Leben scheiden zu wollen, in den USA eine große Debatte auslöste. Eine geniale Idee, denn dadurch kommt der „Messias“ direkt im Alltag der Menschen an. Im Lebensweg der Frau spiegelt sich Jesus’ Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und dem Tod und darüber hinaus die grundlegende Fragestellung vom richtigen Leben und Sterben.

Die großräumige Atmosphäre im Hangar 4 mit einer Bühnenfläche von 60 x 20 Metern verwandelt Damiano Michieletto mit vier SolistInnen und 400 ChorsängerInnen  in ein Weltenepos. Durch den weißen Boden, über dem später ein riesiges Leuchtoval schwebt, bekommt die Handlung polemischen Laborcharakter. Allein, isoliert setzt sich die junge Frau mit ihrer Diagnose auseinander. Schauspielerin Anouk Elias spielt deren Verzweiflung und existenzielle Einsamkeit mit verblüffender Authentizität, unterlegt mit berührenden Kurztexten „Was tun, wenn der Tod an die Tür klopft?“ Sie rennt der Gesellschaft (Chor) davon, rennt gegen sie an mit sportlicher Ausdauer, sucht Schutz und Geborgenheit bei ihrem Mann, findet Unterstützung bei Vater und Mutter, was Michieletto über subtile Personenregie mit zärtlichen Umarmungen empathisch in Szene setzt und Alessandro Carletti durch diffuses Sonnenlicht atmosphärisch intensiviert. Der emotionale Wechsel von Zärtlichkeit und Liebe, Einsamkeit und Angst, Kampfgeist und Erkenntnis macht die Inszenierung so spannend, dass nicht einmal das kurze Feuerwerk im Umfeld stört. 

Wenige Requisten genügen, um Bezüge zur Gegenwart, aber auch zu Jesus’ Leidensweg herzustellen. Wenn die junge Frau im wahrsten Sinne des Wortes „erleuchtet“ im MRT liegt, später mit den Eltern um den Holztisch sitzt, werden religiöse Bezüge zu Prophezeiung und Jesus’ Abendmal deutlich.

Die ChorsängerInnen in bunt sommerlicher Kleidung agieren als Spiegel der Gesellschaft. Choreograf Thomas Wilhelm positioniert sie in immer neuen Konstellationen, die als Labyrinth, Mauern, Linien, handfassende Ketten argumentative Strategien symbolisieren, kniend und betend gläubige Demut ausdrücken. Zunächst vereinzelt, in Kleingruppen kristallisieren sich zwei Lager heraus, die im Protest für das Leben wieder an Einigkeit gewinnen und als aggressive Demonstrationsfront aufmarschieren. Doch die Hälfte der ChoristInnen liegt wenig später tot auf dem Boden. Die Unterstützer der jungen Frau setzen sich durch. Ganz in Grün gekleidet schleppen sie Rasenstücke auf die Bühne, um den Sinn des Lebens im Einklang mit der Natur als richtiges Leben zu deklarieren, in dem der einzelne, sprich die junge Frau frei das Ende ihres Lebens bestimmen kann und im Lichtoval in das Reich der Schattenwesen transzendiert. 

Opernkritik Händels Oratorium "Messias" an der Deutschen Oper Berlin präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Komische Oper Berlin, Foto:Jan Windszus Photography

Trotz dieser groß dimensionierten Handlung überlagert die Inszenierung die Musik nicht, weil sie an sich minimalistisch konzipiert ist, und sich aus der sängerischen Expression entwickelt. Unter der musikalischen Leitung von George Petrou bleiben Orchester, Chor und SolistInnen nicht nur in Balance, sondern auch im klangschön intonierten und überaus dynamischen Wechselspiel. 

Die SolistInnen charakterisieren über ihre ausgesprochen klangschönen Timbres die vier Beschützer der jungen Frau. Durch seinen  geschmeidigen Tenor und seine Körperlichkeit wirkt Rupert Charlesworth als Ehemann wie ein Schutzpanzer. In Katarina Bradić’ glanzvoller Altstimme und leuchtender Tiefe spiegelt sich mütterliche Fürsorge. Tijl Faveyts Bass wirkt selbst in dunklen Lagen väterlich beruhigend und in temperamentvollen Passagen sehr energetisch. Julia Grüters hell pointierter Sopran vermittelt die wissenschaftliche Klarheit der Ärztin und zugleich die emotionale Verbundenheit mit der jungen Frau. Chor- und Projektchor, mit SängerInnen aus acht verschiedenen Laienchören, bringt Chorleiter David Cavelius auf den Punkt, eine Glanzleistung.

Das Orchester bleibt dezent im Hintergrund, agiert in tänzerischer Leichtigkeit, weiß aber sehr klangschön die Sologeige und die verschiedenen Phrasierungen zu Gehör zu bringen, kulminiert in den Tutti des „Halleluja“ und des finalen „Amen“ in apotheotischen Fortissimi.

Man könnte einwenden, dass die Spiritualität des Händelschen Originals fehlt. Andererseits würde sich der Text ohne Handlung in heutigen Tagen nur noch gläubigen Menschen erschließen. Längst hat das „Halleluja“ durch die Kirchenskandale in einer säkularisierten Welt seine Magie verloren und doch wirkt der Glaube in manchen Lebenssituationen wie eine Rettung. Dieser „Messias“ ist eine gelungene zeitgenössische Transformation, die man sich nicht entgehen lassen sollte. 

Künstlerisches Team. George Petrou (Musikalische Leitung), Damiano Michieletto (Inszenierung), Thomas  Wilhelm (Choreografie, Co-Regie) Paolo Fantin (Bühnenbild), Klaus Bruns, Mattia Palma/Daniel Andrés Eberhard (Dramaturgie), David Cavelius (Chöre), Alessandro Carletti (Licht), Holger Schwark (Sounddesign)

Mit; Julia Grüter (Sopran), Katarina Bradić (Alt), Rupert Charlesworth (Tenor), Tijl Faveyts (Bass) , Anouk Elias (Die Frau), Chorsolisten der Komischen Oper Berlin, Projektchor (Chor), Komparserie und das Orchester der Komischen Oper