München – Ulrich Rasche macht aus Aischylos‘ „Agamemnon“ großes Sprechtheater im Residenztheater

Theaterkritik "Agamemnon" im Residenztheater präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Residenztheater, Foto Birgit Hupfeld

Selten erlebt man eine derart konzentrierte Stimmung während einer Premiere. Dem vehementen Sprachduktus des Chores in Rasches ganz spezieller Intonation mit effektvollen Pausen fern vom Versmaß der Jamben und Daktylen kann man sich kaum entziehen, zumal er in dieser Produktion noch einen Schritt weiter geht. Unter der Musikalischen Leitung von Nico van Wersch verdichten vier SchlagwerkerInnen auf einem überdimensionierten Marimbaphon die archaische Atmosphäre und die Vehemenz des Chores. Gleichzeitig hinterfragen sie die textlichen Botschaften klangmusikalisch. Tonale Dissonanzen lassen bereits im Frieden wieder Angst und Wut aufflammen, kombiniert mit sphärischem Sound wird existentielle Vereinsamung der Menschen spürbar.

Dem Mangel an dramatischen Geschehen setzt Rasche sich wandelnde Bühnenwelten entgegen. Eingangs und zwischendurch immer wieder die Menschen mit hängenden Schultern als anonyme Schattenwesen nahe am Styx Richtung Hades dargestellt  fokussiert er in völliger Dunkelheit durch partielle Beleuchtung auf die Bewegungs- und Sprachrhythmik des selbstbewussten Chors und der ambivalenten Protagonisten zwischen Siegesgewissheit und menschlicher Niederlage. Spiegelsegmente hoch über der Bühne liliputisieren das Geschehen aus der Adlerperspektive und werden zur Metapher, wie unterschiedlich Sachlagen bewertet werden können. Lichtlinien formieren sich zu einem Flugangriff. Sofort assoziierte man in Athen den russischen Angriffskrieg. Jetzt kommt noch die Situation im Gazastreifen dazu, ganz zu schweigen von 2500 Jahren Kriegsgeschichte.

Blutrot beleuchtet verdichtet sich die Kunde vom Krieg zum Massaker, dem unvermittelt das Grau des Todes folgt. Jeder verlorene Blutstropfen fordert neue. Das ist der Fluch der Atriden. Ein Mord folgt dem nächsten. Agamemnon opferte die Tochter Iphigenie, um von den Göttern günstige Winde für die Schiffe nach Troja zu erheischen. Zutiefst verletzt und zusätzlich durch Agamemnons Rückkehr mit seiner neuen Geliebten Kassandra entehrt stiftet Klytämnestra Ägisth an beide zu morden. Das alles wird nicht gespielt, sondern vom Chor verkündet. Im ständigen Voranmarschieren im expressiven Tempo von halben Noten mit ausdrucksstarken Contraction-Release-Bewegungen von Becken und Schultern entsteht eine mitreißende Dynamik, die als Metapher des Lebens bewusst mit dem Stilmittel monotoner Wiederholung arbeitet, aber dadurch zuweilen auch ermüdet, zumal der Text volle Konzentration erfordert. „Fluch steht hier gegen Fluch, wer schlug, wird geschlagen und wer mordet, wird gefällt.“ Das ist auf heutige Zeit projiziert zu einfach gedacht, Illusion der Opfer in einer werteorientierten Gesellschaft. Zu oft bleiben die Mörder im Dunkeln.

©Residenztheater, Foto Birgit Hupfeld

Final wandelt sich das monotone Voranmarschieren in eine grandios-grausige Szene. Klytämnestra zieht die Ermordeten in einem schwarzen Tuch hinter sich her, beklagend, was ihr angetan wurde. Ägisth von der Schuld geprägt folgt mühsam, nähert sich ihr im verqueren Gleichschritt. Splitternackt, mit irren Blicken wandelt sich die Szenerie in die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies, großartig von Pia Händler und Lukas Rüppel umgesetzt. Ein starker Schluss, eine durch und durch stimmige Inszenierung. 

Künstlerisches Team: Ulrich Rasche (Inszenierung, Bühne), Nico van Wersch (Musikalische Leitung), Romy Springsguth (Kostüme), Jürgen Lehmann (Chorleitung), Gerrit Jurda (Licht), Michael Billenkamp (Dramaturgie) 

Mit Pia Händler (Klytämnestra), Thomas Lettow (Agamemnon, Chor), Moritz Treuenfels (Menelaos, Chor), Niklas Mitteregger, Max Rothbart (Bote, Chor), Liliane Amuat, Anna Bardavelidze, Barbara Horvath, Myriam Schröder (Kassandra, Chor), Lukas Rüppel (Ägisth, Chor) und den Live-MusikerInnen Sebastian Hausl, Felix Kolb, Cristina Lehaci, Fabian Strauss

 

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