München – „Im Menschen muss alles herrlich sein“ in den Münchner Kammerspielen

Theaterkritik "Im Menschen muss alles herrlich sein" in den Münchner Kammerspielen präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Münchner Kammerspiele, Foto: Armin Smailovic

Die Erinnerungen führen in eine dunkle, in Brauntönen gehaltene Wohnung in der ehemaligen Sowjetrepublik Ukraine, die sich im zweiten Teil in der Inszenierung in die Lieblingskneipe von Edis Mutter Nena verwandelt. Nena wird zum Mittelpunkt des Geschehens. Die literarische Vorlage bildet Marianne Salzmanns Generationen-Epos „Im Menschen muss alles herrlich sein“ (2021). Es ist ein Tschechow-Zitat, nachdem sie ihren Roman benannte und wie bei Tschechow sind die Figuren gefangen in den Geschichten, die sie erzählen, aber nicht leben. 

Es ist ein wuchtiger Theaterabend untermalt mit einer melancholischen Live-Gitarrenmelodie, die in Endlosschleife das Geschehen durchpulst, aufgemischt durch einzelne Songs, in denen die innere Tragik der Personen aufleuchtet, aber auch trunken fröhliches Feiern explodiert. In einem Puzzle von Lebensgeschichten spiegeln sich die gesellschaftspolitischen Entwicklungen korruptiver Systeme und die damit verbundenen Lebenslügen. Doch wie kann ein Leben in einem korrupten restriktiven System „herrlich“ sein?

Regisseur Jan Bosse, der an den Münchner Kammerspielen vor drei Jahren Gabriele Tergits Gesellschaftsroman „Effingers“ inszenierte, und Dramaturgin Viola Hasselberg erstellten eine knackig atmosphärische Bühnenfassung, die die Kindheit und das Leben Nenas in den Mittelpunkt rückt. Als deren Mutter  krank wird, lernt Lena, wie Korruption das Leben bestimmt und die Tugenden, die die Eltern vermitteln, Fleiß, Liebe zur Arbeit, Respekt vor den Erwachsenen, außer Kraft setzt. Lena geht ihren Weg, wird Ärztin, lässt die Liebe zu einem moslemischen Tschetschen zu, der sie verlässt, obwohl sie schwanger wird, und heiratet den lebensfrohen Daniel jüdischer Herkunft, mit dem sie später nach Deutschland emigriert. 

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©Münchner Kammerspiele, Foto: Armin Smailovic

Parallel eröffnen ihre Freundinnen Tatjana und Inna einen Spirituosenladen.  Tatjana wird von einem Deutschen schwanger, der sie mit nach Berlin nimmt und sitzenlässt. Ihre Tochter Nina erzieht sie alleine. Nina, die Nicht-Gewollte  beobachtet alles stumm in provokant variierter Star-Wars-Optik, hoch oben vom Fenster, Schrank oder Kronleuchter aus. Die Großmutter, die liebend Vermisste, geistert  in einem schwarz transparenten Kleid wie als Ahnfrau mitten im Geschehen herum. Durch ihre Präsenz hüllen sie das Geschehen in ein Spannungsfeld zwischen mythischer Erinnerung und selbstgewählter Isolation. Magische Szenen entstehen, wenn Nina die Wehen der Mutter mit den aggressiven Faustschlägen auf die Fensterglasscheiben kommentiert und die Großmutter klagt. „Ich habe doch all das nicht erlebt, um jetzt vor die Hunde zu gehen.“ Diese Tristesse des Lebens zieht sich über drei Generationen hinweg. Nur Inna schafft einen glamourösen Aufstieg durch ihren illegalen Whiskeyverkauf, den sie allerdings mit einer Reihe Schlägen und gebrochenen Knochen bezahlen musste. 

Nach der Pause artet Lenas 50-jährige Geburtsfeier in einer Kneipe in Jena in eine betrunken schrille Groteske aus, in der die Figuren aus Edis Perspektive immer unsympathischer und geheuchelter erscheinen. Für Edi gibt es nur eine Lösung. Sie will hier weg. Der Anspruch „Im Menschen muss alles herrlich sein“ misslingt im Kapitalismus genauso wie im Bolschewismus. Erfolgreich ist nur, wer sich diesen korrupten Systemen anpasst.  

Die Inszenierung besticht textlich und schauspielerisch, sängerisch und musikalisch. Wiebke Puls spielt nicht nur, sondern singt auch variantenreich, zeichnet subtil  und explodiert grotesk, zeigt das brave Kind, die kluge Studentin, naive Liebhaberin, die taffe Mutter und parodiert gleichzeitig dieses Rollenrepertoire. Johanna Eiworth entdeckt in Tatjana das liebenswerte Mädchen das Balletttänzerin werden wollte und zur schrill frustrierten Frau mutiert. Edith Saldandha gibt Edi ein klares Profil als einzige ihr Leben selbstverantwortlich in die Hände. Edmund Telgenkämper zeigt als Tschetschene und Tatjanas Vater zwei ganz unterschiedliche Typen. Maren Solty als Nina und  Lisa-Katrina Mayer als Großmutter weiten die Szenerie ins Tragische. Auch wenn die Musik mitunter fetzt, die latente Melancholie erstickt jegliches herrliche Gefühl.

Künstlerisches Team: Jan Bosse (Text, Regie), Stéphane Laimé (Bühne), Kathrin Plath (Kostüme), Carolina Bigge (Komposition, Livemusik), Arno Kraehahn (Sounddesign), Stephan Mariani, Charlotte Marr (Licht), Viola Hasselberg (Dramaturgie, Text).

Mit: Svetlana Belesova, André Benndorf, Johanna Eiworth, Lisa-Katrina Mayer, Wiebke Puls, Edith Saldanha, Maren Solty, Edmund Telgenkämper, Martin Weigel.