©Residenztheater München, Foto: Katarina Sopcic
Was ist Liebe? Engt sie die persönliche Freiheit ein oder ist sie auch in einer Begegnung mit jemand anderem möglich oder existiert sie nur in der Phantasie? Diese Fragen treiben jede Generation um. Goethes Briefroman „Werther“…
ist das literarische Beispiel schlechthin. Der Selbstmord seiner Romanfigur aus unerfüllter Liebe zu Lotte, die durch die Verlobung mit Albert, aussichtslos blieb, traf das Lebensgefühl in der Epoche des Sturm und Drang als Reaktion auf die rational orientierte Aufklärung. Eine suizide Werther-Welle entstand.
Von dieser Perspektive aus setzt Elsa-Sophie Jachs Inszenierung im Residenztheater an. Mit balsamischer Stimme erzählt Johannes Nussbaum das dramatische Ende Werthers. Er erschoss sich, dass das Hirn herausspritzte, so der Vorspann vom „Leiden der Jungen“, das nun exemplarisch auf Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ fokussiert, ergänzt von Texten seiner Zeitgenossin Karoline von Günderrode, die sich wie Werther aus unerfüllter Liebe umbrachte. Realität und Fiktion verschmelzen und werden in Jachs Inszenierung durch den Techno-Sound in der Gegenwart verortet.
Johannes Nussbaum kommt aus dem Foyer auf die Bühne, freut sich über das Publikum und dass er weg ist. Er will nun das Gegenwärtige genießen und das Vergangene soll vergangen sein und schon ist er mitten drin im Modus schwärmerischer Liebe zur seelenverwandten Lotte. Bühne und Kostüme in Bilderbuchoptik unterstreichen poetische, aber auch parodistische Momente. Mit blauen Haaren, Schleifenbluse und Patchworkhose wandelt sich Werther in einen verpoppten Stürmer und Dränger quer durch die Kulturgeschichte. Er performt vor stilisiert gemalter Blumenwiese hin und her, schwingt im Rhythmus der Natur, fällt bewusst aus der Rolle, „ein Drittel ist schon geschafft“, dialogisiert mit dem Publikum und zieht es gleichzeitig immer mehr in seinem Bann. „So allein und so glücklich“ schwärmt er von Lotte, eine Seelenverwandte, die „Klopstock“-Momente simultan mit ihm erkennt. Die Magie Lottes wird gleichzeitig durch die beiden Musikerinnen Sarah Mettenleiter (Synthesizer, Klavier) und Bettina Maier (Synthesizer, Bassklarinette) hörbar. Sie durchpulsen Werthers Seelenleben zwischen Liebeseuphorie und Liebesleid durch die glühende Tiefe der Bassklarinette, klare aufsteigende Tonfolgen am Klavier und verdichten durch Synthesizer-Geraune über die Gefühle eines Einzelnen hinaus Poesie zum rauschhaften Rave. Gleichzeitig ironisieren sie in roter Optik mit blonder Lockenperücke am rechten und linken Bühnenrand positioniert als doppeltes Lottchen Werthers fiktionale Gefühlsstimmungen.
©Residenztheater München, Foto: Katarina Sopcic
Immer öfter schlüpft Nussbaum in die Rolle von Werthers Kontrahenten Albert. Die Hose hochgezogen, Schleife nach hinten geworfen, mit hängender Zunge und verqueren Gang veralbert er Albert. Werther bleibt die Natur als Surrogat. Ganz in Grün auf einer goldenen Schaukel hin und her schwingend philosophiert er über die Existenz des Menschen und die Möglichkeit zu sich selbst zu kommen. Die Antwort ist bekannt. Dass er in dieser Inszenierung unter einer Megablüte abgeht, rückt den Text noch näher in die Gegenwart. Es ist ein unterhaltsamer, literarisch vielschichtiger Abend, der gekonnt im Vergangenen gegenwärtige Aspekte findet.
Künstlerisches Team: Elsa-Sophie Jach (Inszenierung), Aleksandra Pavlović (Bühne, Kostüme), Max Kühn, Raman Sladek (Komposition, musikalische Leitung), Barbara Westernach (Licht), Constanze Kargl (Dramaturgie)
Mit: Johannes Nussbaum, Bettina Maier (Synthesizer, Klavier), Sara Mettenleiter (Synthesizer, Bassklarinette)