"Kultur macht glücklich"


Landshut/Passau – Juli Zehs „Corpus Delecti“ im Landestheater Niederbayern

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Landshut/Passau – Juli Zehs „Corpus Delecti“ im Landestheater Niederbayern

©Landestheater Niederbayern, Galerie Litvai

Juli Zeh blickt in ihrem Stück „Corpus Delicti“ in die Zukunft Mitte des 21. Jahrhunderts. Es war eine Auftragsarbeit für die Ruhrtriennale 2007, gedanklich verankert in den Gefährdungen der Demokratie nach den massiven Verschärfungen der Sicherheitsgesetze infolge der Anschläge vom 11. September 2001. Als Juristin rückt sie nicht die Politik in den Vordergrund, sondern Richter, Anwälte und Journalisten. Gleichzeitig justiert sie den Plot weit vor der Pandemie auf eine Gesundheitsdiktatur. Wer ungesund lebt, selbst wenn man nur eine Zigarette raucht, wird bestraft. Das Stück war so erfolgreich, dass sie zwei Jahre später den gleichnamigen Roman veröffentlichte, beides ganz in der Tradition dystoper Visionen, gedanklich eine Kombination von Aldous Huxleys Roman einer genmanipulierten „Schönen neuen Welt“ (1932) und Orwells grausamen Überwachungsstaat „1984“. Es blieb Juli Zehs einziges Theaterstück und wenn man es gesehen hat, weiß man auch warum. 

Wie in Elfriede Jelineks Stücken obliegt es dem jeweiligen Regisseur diesen fast 200-seitigen, intellektuell diskursiven Diskussionstext für die Bühne dramatisch zu verdichten und personell zu arrangieren, eine extrem große Herausforderung, zumal Juli Zehs trocken rationale, immer wieder hauptsatzgetaktete Ausdrucksweise und simpel verkopfter Plot über konträre Parolenwiederholungen von individueller Freiheit und staatlicher Überwachung im Dienste der Gesundheit kaum hinauskommt.

Mia Holl, Biologin, wird zum Corpus Delicti, weil sie die „Methode“ der Gesundheitsdiktatur für den Selbstmord ihres Bruder Moritz verantwortlich macht. In ihrer Trauer steht sie plötzlich zwischen ihren eigenen geistigen Fronten. Sie selbst denkt zwar als Wissenschaftlerin ganz rational, beginnt aber durch den Tod des Bruders seine emotionale Art, seine Liebe für die Natur und seine Freundin zu verstehen. Negative Gefühle erlaubt die Gesundheitsdiktatur nicht. Trauer ist strafbar. Mias Inhaftierung und Gerichtsprozess wird von der Presse zum Präzedenzfall gegen Terrorismus hochstilisiert, worauf es zu Sympathiekundgebungen kommt. Man begnadigt Mia, um sie nicht zur Märtyrerin der RAK-Bewegung, Recht auf Krankheit, zu machen, aber um welchen Preis. Gehirnwäsche klingt an.

Juli Zehs "Corpus Delicti" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de.

©Landestheater Niederbayern, Galerie Litvai

Regisseur Markus Bartl und Ausstatter Philipp Kiefer, ein eingespieltes Spezialistenteam für narrative Umsetzungen auf der Bühne, entwickeln das Stück passend zum permanent textpräsenten Kernwort „Methode“ induktiv in klarer symbolischer Optik, subtil musikalisch untermalt. Kombiniert mit Comedy, Satire und Traumerinnerung gelingen belebende Handlungssequenzen. Mia im roten Trainingsanzug wird trotz aller Ratio immer mehr das emotionale Zentrum. Mit der Präsenz ihres untoten Bruders Moritz (Paul Behrens), im schwarz-rot karierten Holzfällerhemd sehr diesseitig mit Todessehnsüchten gewinnt die Inszenierung dramatische Spannung. Er ist Mias gedanklicher Kontrapunkt mit der These „Das Leben ist ein Angebot, das man ablehnen kann“, der sie sich immer mehr nähert, je stärker die juristische und mediale Repression wird. Gleichzeitig ermöglicht diese erweiterte Personenkonstellation sehr gelungene, sich leitmotivisch wiederholende, surreal poetische Erinnerungsszenen einer Geschwisterliebe, in der man sich gegenseitig ein Zuhause ist. Über Tiermasken vom Ensemble vor projizierter schemenhafter Waldkulisse gespielt tauchen Rehkitz und Dachs, Hase und Fuchs mit einem Tablett mit Gras auf, Symbole für die Freiheit, die Magie der Natur und gleichzeitig Ausdruck ihrer Miniminierung, eine originelle Verdichtung und Belebung dieser kopflastigen These-Antithesen-Struktur, ebenso wie der parodistische Chor der opportunen Nachbarn (Julian Ricker, Joachim Vollrath, Reinhard Peer).

Die juristische Obrigkeit und die Medienvertreter sind in Schwarz gehüllt. Wie duplizierte Mephistos dominieren Antonia Reidel und Paula-Maria Kirschner hoch oben als Richterinnen, unerreichbar für Mia, auch wenn sie sich auf die Waschmaschine stellt. Katharina Elisabeth Kram spielt sie überaus facettenreich, zuerst voll rationaler Contenance, dann zunehmend mit rebellischem Temperament. Doch die „Methode“ macht sie zum Opfer. Selbst in weiterer Entfernung von der Bühne spürt man, wie ihr die Obrigkeit regelrecht die Luft zum Atmen nimmt. Nur die Anwältin (Katrin Wunderlich) erweist sich durch selbst erlittenen Wunden seitens der „Methode“ als kluge Verteidigern Mias, wogegen die Journalistin Henrike Kramer, blutig rot behandschuht, sie raffiniert als Marionette für ihre Sensationsberichterstattung benutzt, was durch Friederike Baldins sonores Sprachtempo das Fehlen jeglicher Empathie unterstreicht. Wenn sich die Bühne in einen poppigen Talkshow-Vorspann verwandelt, wird der Manipulationsprozess überdeutlich. Längst ist diese Journalistin der verlängerte Arm der Justiz. Mit atemberaubendem Tempo surrt Friederike Baldin die 30 Thesen der Gesundheitsdiktatur als reines Possenspiel herunter, viel zu schnell um mit dem Denken mitzukommen. Andere Inszenierungen beginnen mit diesem Part, betten damit das Stück von Anfang in einen gesellschaftlichen Rahmen ein und leiten dann deduktiv das Quod erat demonstrandum ab, was dem Zuschauer im ersten Teil sicher noch viel stärker die Rigidität dieses Überwachungssystems vor Augen geführt hätte, in der Gesundheit, der perfekte Geist in einem perfekten Körper, Sport und Optimismus oberste Bürgerpflicht sind und Partner nach immunbiologischen Kriterien ausgewählt werden.

Aber Markus Bartl fokussiert weniger auf das gesellschaftliche Lehrstück über Datenüberwachung und biometrische Kontrollverfahren als vielmehr auf einen Laborversuch über die Einschränkung individueller Freiheit aus der Perspektive Mias. „Die Welt ist eine Spiegelung an der Außenseite meines Verstandes“. Vor diesem Hintergrund erschließt sich auch, warum Katharina Elisabeth Krams flotter Rap durch die eingespielte Nachhallschleife ganz bewusst unverständlich bleibt. Ihr Protest wird einfach mundtot gemacht. 

Ein Problem bei der besuchten Vorstellung in Passau war allerdings teilweise die schlechte Textverständlichkeit. 

Juli Zeh (* 1974 in Bonn) studierte in Krakau, New York, Leipzig und Passau. Seit Dezember 2018 ist sie ehrenamtliche Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg. „Corpus Delicti“ blieb bislang ihr einziges Theaterstück. „Über Menschen“ (2021) wurde laut Börsenverein des Deutschen Buchhandels mit 44000 verkauften Exemplaren am häuftigsten gekauften Roman. 2023 erschien „Zwischen Welten“