Sie atmet tief ins Mikrophon, schwer, leidend, als würde der Herzschlag jeden Moment stillstehen. Der Atem, seine Weiterführung als atmosphärisches Hintergrundgeräusch wird zum pulsierenden Leitfaden der Inszenierung von
Wolfgang Herrndorfs Romanfragment „Bilder deiner Liebe“ zeigt eine kurze Lebenssequenz eines pubertierenden Mädchens. Doch in diesen wenigen Tagen leuchten die grundsätzlichen Lebensfragen von Zeit, Liebe, Verstehen auf.
Unter der Regie von Sven Grunert gewinnt Julia Koschitz, von ihm entdeckt, inzwischen eine nachgefragte Filmschauspielerin, ihre großartige Bühnenpräsenz zurück. Noch in den großen Rollen als Antigone, Nora, Virginia Woolf in Erinnerung spielt sie jetzt das pubertierende Mädchen Isa. Sven Grunert weiß die Stärken Julia Koschitzs in immer neuen Positionen überraschend und wirkungsvoll in Szene zu setzen. Mit ihrem leisen, subtilen Spiel, rhythmisierenden Sprachduktus und gezirkelt pantomimischer Bewegungsdynamik zieht Julia Koschitz das Publikum in den Bann dieser fiktiven Outdoor-Figur.Eine schwarze Plastikfolie genügt für den Wald, eine weiße als Sinnbild für ein Bett aus Moos, ein Einkaufswagen gepolstert mit Plastiktüten als Erdmulde und gleichzeitig als unterschwellige Kritik am Konsumterror, der doch keine innere Lebensbefriedigung gibt. Die findet diese Isa nur in der Natur, unter dem Kosmos der Sterne, den sie glaubt zu verstehen, um im nächsten Moment zu erkennen, dass dieses Verstehen schon dem Unverständnis gewichen ist.
Diese Isa mag verrückt sein, zumindest hat die Gesellschaft sie so stigmatisiert , aber bescheuert ist sie nicht. Sie will nur wissen, was eigentlich das Leben ausmacht. In einem günstigen Moment flieht sie aus der Anstalt, dann vor der Frau, die sie per Autostopp mitnimmt, aber gar keine Frau zu sein scheint. Isa läuft durch die Wälder, wird, sich das Menstruationsblut bei einer Sprenkelanlage abwaschend, vom Trainingsbeginn einer hämischen Fussballschaft überrascht, lernt einen Schiffer kennen, der ein Bankräuber war und trotz des möglichen reichen Lebens sich mit einem bürgerlich spießigen Leben begnügte. Dazwischen tauchen die Erinnerungen an ihren Vater auf, von dem sie nie wusste, wer er war, und in dessen Armen sie immer noch beschützt „morgenlichtklar“ aufwacht. Das sind die Bilder ihrer großen Liebe.
©Marco Bresdola
Julia Koschitz erzählt nicht nur Isas Geschichte und darin verwoben, die Geschichten der Menschen, die Isa trifft , mehr noch Julia Koschitz singt und lebt Isa aus der Perspektive von Gershwins mitreißendem „Summertime“ zwischen nostalgischen Kindheitserinnerungen und bitterer Realität. Nicht die Liebe ist entscheidend, sondern der Weg, nicht die Handlung, sondern das innere Erleben.
Julia Koschitz lässt tief in die subtile Seele dieser Isa blicken, zeigt sie aufrecht mutig, sympathisch, macht Isa zum Exempel einer Gesellschaft, die menschliches Miteinander aus dem Leben katapultiert hat.
Isa führt Tagebuch. In großen Lettern stellt Julia Koschitz „Anosognosie“ in den Mittelpunkt, die Unfähigkeit Isas, die eigene Erkrankung wahrzunehmen und schafft damit eine latente Anspielung auf die Anosognosie unserer Gesellschaft, die unser Leben in ein Plastikleben verwandelt, dahinter nur die Slums aus Kartonagen (Bühne Sascha Gross). Muss man in dieser Welt überhaupt noch leben? Ist es nicht einfacher von oben in den Abgrund hinabzustürzen in die Zeitlosigkeit?