Berliner Theatertreffen – „Reich des Todes“ von Rainald Goetz im SchauSpielHaus Hamburg

Zum dritten Mal ist Sebastian Hartmann mit einem epochalen Roman der Weltliteratur beim Theatertreffen vertreten. Alle Handlungsstränge, die in Thomas Manns „Der Zauberberg“ formstreng von Hans Castorps siebenjährigem Sanatoriumsaufenthalt am Vorabend des Ersten Weltkriegs erzählen, löst er auf und überführt sie in einen intensiven Bilderrausch. Sieben Schauspieler*innen irren durch einen nicht enden wollenden Schneesturm und kreisen in vielfältigen, verstörenden Monologen um die wiederkehrende Frage: Was ist der Körper im Lauf der Zeit? Ursprünglich für ein Publikum vor Ort geplant, hat das Team um Hartmann die Inszenierung für einen Livestream grundlegend überarbeitet. In diesem neuen Setup kommen die Bildwelten des Videokünstlers Tilo Baumgärtel und die Musik von Samuel Wiese umso kraftvoller zur Geltung.

©Arno Declair

In fulminanten Szenen, Simultaneffekten, die allerdings im Livestream nicht alle einzufangen sind, spannt sich der Bogen vom bereits schon etwas schräg klingenden, herrlich ironischen Walzerballett mit weitem Abstand einfordernden Schwimmnudelreifröcken über Explosion, Folterkammern und aus dem Lot geratenen Pressekonferenzen bis zu rhythmisierten Sprechgesängen mit Perkussion. Das Attentat, längst dokumentarisch aufgearbeitet, wird hier zum Impuls Politik in ihrer intriganten Zweideutigkeit zu hinterfragen. 

Der Justizminister beteuert „eine rechtliche Grundlage für Folter gibt es nicht. Dieses Land foltert nicht“. Aus der Perspektive eines irakischen Gefangenen im Folterskandal von Abu Ghuraib ändert sich die Sachlage. Er steht er auf dem Podest, darf nicht einschlafen, nicht hinunterfallen, um sich nicht selbst umzubringen. „Die Qual der Gedanken war die Folter.“

Später sitzen Busch und seine Sicherheitsberater, Verteidigungsminister umgenannt in deutsche Nazis von einst und heute selbst im „Hades“ ein, womit sich die Krisensituation, die Aushöhlung der Bürgerrechte nach Deutschland verlagert.

Natürlich gibt es keine Folter. Die Verhöre sind human. „Menschen befragen Menschen, bis sie sagen, was sie wissen.“ Die brutalen Szenen zeigen die Realität in einer Zeit der Krise, in der „gewisse Korrekturen in der Staatsspitze möglich“ sind und die Exekutive uneingeschränkte Rechte bekommt. Rigorose Rechtfertigungen, politische Phrasen, despektierliche Angriffe, juristische Winkelargumentationen überschlagen sich. Collagiert mit philosophischen, historischen, theologischen Anspielungen bauen sich Sprachschlachten auf. Sätze knallen wie Maschinenpistolen. Szenen verdichten sich zu einem gigantischen Unterhaltungsflow mit SchauspielerInnen realistisch im Anzug oder als ausgefallene symbolische Maskenträger.

Zum dritten Mal ist Sebastian Hartmann mit einem epochalen Roman der Weltliteratur beim Theatertreffen vertreten. Alle Handlungsstränge, die in Thomas Manns „Der Zauberberg“ formstreng von Hans Castorps siebenjährigem Sanatoriumsaufenthalt am Vorabend des Ersten Weltkriegs erzählen, löst er auf und überführt sie in einen intensiven Bilderrausch. Sieben Schauspieler*innen irren durch einen nicht enden wollenden Schneesturm und kreisen in vielfältigen, verstörenden Monologen um die wiederkehrende Frage: Was ist der Körper im Lauf der Zeit? Ursprünglich für ein Publikum vor Ort geplant, hat das Team um Hartmann die Inszenierung für einen Livestream grundlegend überarbeitet. In diesem neuen Setup kommen die Bildwelten des Videokünstlers Tilo Baumgärtel und die Musik von Samuel Wiese umso kraftvoller zur Geltung.

©Arno Declair

Jeder spielt mit egomanischer Dominanz bis zum Anschlag, sich selbst in eine Groteske verwandelnd und die Aushöhlung der Bürgerrechte vorantreibend. „Am eigenen Interesse interessiert“ wird zum Marker politischen Selbstverständnisses. Zwischen hämischem Gelächter, clownesken Slapsticks, persönlichen Explosionen und Raufereien, Bombenalarm und Rollstuhl als Rammbock, Einblendung von Bildern, die um die Welt gingen, und archaischem Erinnyenchor polarisiert sich die Szenerie. Dabei waren alle Informationen richtig. Mitnichten. Balsamisch religiöse Choräle werden zum großen Finale von skandiert einpeitschendem Sprechgesang mit Perkussion abgelöst, überdröhnt von Orgelakkorden. Das ist dramaturgisch ein langer Weg ins „Reich des Todes“ mit seinen vielen Irritationen, frivolen Vermarktungsstrategien, komplexen Anspielungen nicht auf einmal zu fassen, aber genau deshalb zutiefst beeindruckend. 

Künstlerisches Team: Karin Beier (Regie), Johannes Schütz (Bühne), Eva Dessecker, Wicke Naujoks (Kostüme),Jörg Gollasch (Komposition und musikalische Leitung / Komposition und Einstudierung „Beschluss“, V. Akt), Voxi Bärenklau (Videodesign),Rita Thiele, Ralf Fiedler (Dramaturgie), Annette ter Meulen (Licht), Christine Groß (Einstudierung Sprechchor „Desastres de la Guerra“, IV. Akt),Valentí Rocamora i Torà (Körpertraining und choreografische Mitarbeit), Vanessa Christoffers-Trinks (Mitarbeit Videorecherche), Anna Werner (Produktionsleitung9

Mit: Sebastian Blomberg Maximilian Scheidt, Holger Stockhaus, Lars Rudolph, Sandra Gerling, Wolfgang Pregler, Burghart Klaußner, Anja Laïs, Daniel Hoevels, Markus John, Michael Weber, Tilman Strauß, Eva Bühnen, Josefine Israel

Musiker*innen:Fanis Gioles, Yuko Suzuki (Perkussion), Wassim Mukdad (Oud), Michael Heupel (Cello), Anna Lindenbaum (Bratsche), Camilla Busemann (Violine)

Tänzer: Samuli Emery, João Pedro de Paula, Sayouba Sigué, Valentí Rocamora i Torà