©Berliner Ensemble, Foto: Jörg Brüggemann
Im Dunkeln blitzen die Gesichter im Schein der Handys auf, zuerst das der Mutter, dann die ihrer vier erwachsenen Töchter, die aus verschiedenen Ländern anreisen, um sie am Tage vor ihrer Operation zu besuchen. Statt Harmonie…
prallen ihre unterschiedlichen Lebensstile aufeinander, in denen sich die Problematiken unserer Zeit spiegeln. Die Verstreuten bleiben auf Distanz, jede in einem anderen Winkel der großen Wohnung mit Versatzstücken aus ihrem assoziierbaren Zuhause. Sasha wie eine Höhlenbewohnerin im Wald, Sofia in einem bequemen Kuschelsessel, Suzana unter einer Fluganzeige. Nur Sabine ist nahe der Mutter auf der Rückenlehne der Couch. Sabine fällt aus dem Rahmen, wie der Schal, an dem sie strickt. Sie ist ein Endlos-, inzwischen auch ein Auslaufmodell einer sich um die Familie kümmernden Tochter und Mutter. Sie unterrichtet mit ihrem Mann ihr Kind zu Hause und will die Mutter nach der Operation versorgen. Ihre Schwestern sind dagegen auf Egotrip. Sasha, einst erfolgreiche Autorin, links und queer, jetzt ohne Arbeit führt Hunde spazieren und betäubt ihre Enttäuschungen mit Alkohol. Sofia ist gerade dabei ihr bisher sehr komfortables Leben als Botschafterfrau nach einem halluzinogenen Retreat völlig umzukrempeln und ihre Vergewaltigung durch ihren betrunkenen Ehemann während der Hochzeitsnacht und die spätere Abtreibung zu bewältigen. Suzana, 50 Jahre alt, Mutter von drei, wie sie zugibt, lebensuntüchtigen Jungen, wirkt völlig gestresst, steckt noch am Flughafen fest und ist per Handy zugeschaltet. Aus ihrer pragmatischen Sicht zerlegt sie die hausgemachten Probleme ihrer Schwestern, ohne zu begreifen, was sie selbst in der Erziehung ihrer Kinder verbockt hat.
Nun sind „Die Verstreuten“ für eine Nacht wieder zusammen. Tena Štivičić, die das Stück für das Berliner Ensemble geschrieben hat, lässt sie nacheinander im Spotlight fixiert monologisieren, was einmal mehr verdeutlicht, wie jede in ihrer eigenen Blase lebt. So unterschiedlich ihre persönlichen Erfahrungen sind, Isolation und Einsamkeit kennen sie alle vier. In ihrer Egozentrik haben sie das Aufeinanderzugehen verlernt. Wie angeklebt verharren sie in ihrer Position. Sie trinken, rauchen, streiten. Allein Sabine schafft es die Klüfte zu überwinden und die Mutter von kleinen Kommentaren abgesehen meist nur Zuhörerin, verblüfft ihre Töchter durch ihre Entschlossenheit in puncto Sterben.
Das ist durchaus ein reflektierter Blick auf die entemotionalisierte Lebensweise unserer Zeit, insbesondere seit der Pandemie, die Štivičić geschickt über den Tod des verstorbenen Vaters einbaut, dessen wahrer Sachverhalt alle vier Töchter und auch das Publikum überrascht.
Sehr gut besetzt, lichttechnisch effektvoll hervorgehoben kommt die Selbstversponnenheit jeder Frau bestens zur Wirkung. Noble Distanz strahlt Constanze Becker als Sofia aus, doch ihr angeblich spiritueller Höhenflug stürzt wie ein Kartenhaus ein. Ganz aus der Bahn geworfen offeriert Kathrin Wehlisch unter Saskias pennerhafter Optik die existentielle Not einer Autorin, deren berührende Texte das Lektorat als nicht mehr zeitgemäß abschmettert. Bettina Hoppe bringt als Suzana das Zerrbild einer gestressten Übermutter ein. In ihrem Wunschleben angekommen ist nur Sabine, deren Zurück zur wertkonservativen, sich absolut auf die Familie konzentrierte Mutterrolle Pauline Knof als Non-plus-utra präsentiert. Dem Publikum bleibt wie der Mutter, von Josefin Platt sehr selbstständig und sympathisch interpretiert, nur das Staunen über die vier fundamental unterschiedlichen Lebensweisen, die letztendlich alle in eine Sackgasse führen. Trotz einiger witziger Passagen balancieren „Die Verstreuten“ unter der Regie von Laura Linnenbaum einer melancholischen Tristesse entlang, ohne wirklich neue Denkansätze zu vermitteln und dramaturgische Spannung zu entwickeln.
Künstlerisches Team: Laura Linnenbaum (Regie), Daniel Roskamp (Bühne), Michaela Kratzer (Kostüme), David Rimsky-Korsakow (Musik), Steffen Heinke (Licht), Sybille Baschung (Dramaturgie)
Mit: Josefin Platt (Barbara), Constanze Becker, (Sofia), Kathrin Wehlisch (Sasha), Bettina Hoppe (Suzana), Pauline Knof (Sabina)