„Die Maschine“ ©Eike Walkenhorst
Vogelgezwitscher, Geräusche eines galoppierender Reiters. Er eilt eine knarzende Treppe hinauf, kritzelt ein Gedicht, das weiß auf schwarzer Bühnenfläche aufleuchtet. Der romantische Beginn sorgt für eine vergnügliche Einstimmung, getoppt vom absoluten Kontrastprogramm, das folgt…
Lauthalses Gelächter von Anfang bis Ende der Vorstellung gibt es selten im Theater, was umso mehr verwundert, da es allein durch die Sprache produziert wird. Von Anita Vulesica inszeniert und von sechs Ensemblemitgliedern des Hamburger Schauspielhauses exzellent gespielt, entwickelt sich Georges Perecs Text „Die Maschine“ zur herrlich grotesken Parodie einer völlig KI-übersteuerten Gesellschaft.
Treppenförmig angeordnet sitzen fünf Programmierer an ihren von Neonleuchten umrahmten Schreibtischen, ganz oben die Chefin, die die analytischen Aufgaben vorgibt zu Goethes berühmtem Gedicht „Über allen Gipfeln ist Ruh“, das er 1780 spontan auf die Wand einer Jagdhütte im Thüringer Wald schrieb. Es inspirierte den französischen Autor und Filmemacher Georges Perec (1936-1982) zu dem Hörspiel „Die Maschine“ (1968), in dem nicht Menschen, sondern Schaltkreise kommunizieren. Das Hörspiel wiederum begeisterte Regisseurin Vulesica, nach „Gehaltserhöhung“ bereits die zweite theatrale Umsetzung eines Perec-Textes.
Auf der metallisch schimmernden Bühne degradieren die Schauspieler zu Schaltkreisen, gelenkt von einem nicht minder automatisierten, ebenfalls personifizierten Kontrollzentrum. Goethes Gedicht wird analysiert, überdreht durch irrsinniges Tempo, expressive Körperlichkeit und ein sagenhaftes Timing. Immer sprachakrobatischer werden die sprachanalytischen und semantischen Ausgaben, die Schwitters und Jandls phonologische Gedichte assoziieren lassen. Aber hier wird nicht mehr der Mensch, sondern die Maschine, sprich die KI aktiv, die befehlsgetreu Unsinn regeneriert, in der nur ab und zu inhaltliche Kontexte verständlich werden und die jegliche atmosphärische Emotion, v. a. die Stille verweigert. Nur kurz dreht sich die Bühne um 180 Grad, um in der Natur in choreografierter Stille zu verweilen, aber die Maschine drängt sich wieder in den Vordergrund, bekommt nicht genug von den endlosen, völlig unsinnigen Transformationsaufgaben, womit die Inszenierung voll den Zeitgeist parodiert. „Je mehr wir wissen, desto weniger verstehen wir.“ Treppauf, treppab, überbieten sich die Schauspieler in rhetorischer Präzision und Originalität, reduzieren grammatikalische Strukturen, Artikel, Präpositionen, Konjunktionen, Vokale, Konsonanten, finden Synonyme, Analogien, Anagramme, Anaphern, neue Reimstrukturen. Der Transformationsreichtum scheint unerschöpflich. Wie bei einer TV-Fernsehshow beendet der schnelle Handschlag auf die Enter-Taste, ein riesiger roter Buttom, die Aufgabe und schon befeuert eine neue den Wettbewerb. Alles noch so Unsinnige wird gespeichert. Lang sind Lochkartenschleifen. Dass in der Zwischenzeit schon tote Fische vom Himmel fallen, bemerkt niemand. In diesem Kontext offerieren sich die metallischen Säulen, auf denen die Schaltzentralen treppenförmig montiert sind, als Baumstümpfe und Symbole für das Verschwinden der Natur.
Wie sehr man sich um die Gedichtanalyse auch bemüht, es gelingt nicht zum Kern von „Über allen Wipfeln herrscht Ruh“ vorzustoßen. Erst final begrünt das Licht die Metallröhren der Maschine im Bühnenhintergrund, die nun wie kahle Bäume wirken. Phantasiehelme wie aus parodistischen Science-Fiction-Filmen werden gegen groteskes Geweih und Wurzelwerk eingetauscht. Ein Goethe-ABC lässt endlich den Dichter auch emotional erleben und schließlich gelingt sogar die absolute Stille, bevor der Applaus aufbrandet. Ein rhetorisch faszinierendes Theaterspektakel mit Tiefgang!
Im Anschluss an diese erste Vorstellung von „Die Maschine oder: Über allen Gipfeln ist Ruh“ in Berlin wurde Anita Vulesica mit dem mit 10.000 Euro dotierten 3sat-Preis im Rahmen des 62. Theatertreffens ausgezeichnet. Überglücklich performte sie ihre Dank-Laudatio witzig im Stil Ihrer Inszenierung. Man darf auf ihre nächsten Regiearbeiten gespannt sein.

©Michaela Schabel
Künstlerisches Team: Anita Vulesica (Regie), Henrike Engel (Bühne), Janina Brinkmann (Kostüme), Camill Jammal (Musik), Mirjam Klebel (Körperarbeit, Choreographie), Phillip Hohenwarter (Video), Susanne Ressin (Licht), Christian Tschirner (Dramaturgie)
Mit: Yorck Dippe, Sandra Gerling, Moritz Grove, Daniel Hoevels, Christoph Jöde, Camill Jammal.