Die Schwerkraft erkunden, das Parfüm der Rose entdecken, gegen die Kälte tanzen, mit extravaganten zeitgenössischen Choreografien überraschte das neue Ballettformat „Sphären“ bei den Münchner Opernfestspielen. Noch nicht bekannte künstlerische Handschriften will es entdecken. In der zweiten Auflage kuratierte Angelin Preljocaj das Programm und wählte zu seiner eigenen Choreografie „Un trait d´union“, Èmilie Lalandes „Le spectre de la rose“ und Eduard Hues „Skinny Hearts“. Auf der Bühne, von einigen Requisiten abgesehen, leer und dunkel, leuchten die Körper umso mehr, entwickelt sich die Magie physischer Kraft und Schwerelosigkeit als Ausdruck psychischer Prozesse jeweils in 25 Minuten intensiven Tanzens…
©Bayerische Staatsoper, Foto: Gherciu
Die Schwerkraft war für Kurator Angelin Preljocaj der entscheidende Aspekt für die Auswahl der Stücke. „Jeder Tanzstil hat eine eigene Antwort auf die Frage nach der Schwerkraft“. Faszinierend reflektiert er in seiner frühen Choreografie von 1989 „Un trait d´union“, wie die Schwerkraft die Geschwindigkeit der Bewegung beeinflusst, je mehr, desto schwerer, je weniger desto leichter, als ob die Luft kompakter würde. Ein Tänzer schiebt einen braunen Ledersessel auf die Bühne. Er wird Ersatz für Geborgenheit und zum akrobatischen Experimentierfeld für Balancen und Haltepositionen, als ein zweiter Tänzer hinzukommt. Auf dem Boden liegend hebt der eine durch reine Körperspannung und Konzentration, ab, als flöge er, der fängt ihn auf. Ein „Ah!“ raunt durch die Zuschauerreihen. Synchron oder nacheinander entwickeln beide Tänzer untermalt von Bachs klangschönem „Largo aus dem Klavierkonzert Nr. 5 BWV 1056“ eine wunderbar poetische Visualisierung von menschlicher Annäherung, immer wieder segmentiert von unerwarteten Distanzen.
Mit: Severin Brunhuber, Konstantin Ivkin
Das Gedicht von Théophile Gautier „Der Geist der Rose“ inspirierte Émilie Lalande zu ihrem Ballett „Le spectre de la rose“, das sie gemeinsam mit dem Ensemble erarbeitete. Zwei Tänzerinnen und zwei Tänzer in grauen Jacketts wirken uniform, umso wirkungsvoller ist die Enthüllung. Zwei Tanzpaare kristallisieren sich heraus, ähnlich und doch sehr unterschiedlich. Im weißen Trikot wie eine antike Plastik der Mann, seine Partnerin wie eine Rose wirken beide entrückt und tanzen doch sehr modern, das andere Paar ist modern gekleidet, dagegen mehr vom klassischen Tanz beeinflusst. Beide Tanzstile verschmelzen, verbinden ästhetische Schönheit und expressiven Ausdruck, so wie die Rose alle verzaubert, ihren Duft wie Parfüm verbreitet.
„Le spectre de la rose“ ist nicht neu, wurde von Michail Fokines für Nijinky und Tamara Karsawina 1911 choreografiert und hat Ballettgeschichte geschrieben. Gautier fokussiert bei ihrer Uraufführung in München auf die Symbiose der Tanzstile, doch die Realisierung dieses charmanten Narrativs bleibt in ihrer plakativen Symbolik tänzerisch sehr traditionell. Man vermisst neue Tanzimpulse adäquat zum extravaganten Soundmix aus Klassik, Geräuschen und sphärischen Klangwolken. Ob die Rose auf einer Schaukel über die Bühne fliegend tatsächlich poetisch oder kitschig wirkt, ist Geschmacksache.
©Bayerische Staatsoper, Foto: Gherciu
Mit: Matteo Dilaghi, Zhanna Gubanova, Soren Sakadales, Phoebe Schembri
Umso rasanter wirkt Edouard Hues Uraufführung von „Skinny Hearts“. Geheimnisvoll kreuzt eine Tänzerin nach der anderen zusammengekauert die Bühne, als sei es sehr kalt. Doch durch das Seitlicht glühen ihre Körperlinien. Durch Lichtkegel von oben voll ausgeleuchtet entwickeln die acht Tänzerinnen aus einfachen Catwalk-Linien komplexe choreografische Muster zum Musikmix von Jonathan Soucasse.
©Bayerische Staatsoper Foto: Gherciu
In ständiger Bewegung durch kleine Trippel- und großen Stechschritte auf dem Fußballen geht es ständig voran gegen die Schwerkraft der Widerstände des Lebens, sichtbar an den runden Rücken, vorwärts gezogenen Schultern, vorgeschobenen Hüften, für einen Augenblick aneinandergereiht wie Darwins evolutionäre Entwicklung des Homo erectus. Kreisend bauen die Tänzerinnen energetische Felder auf, fusionieren zu sozialen Netzwerken, die an Technopartys und an Eyals avantgardistischen Tanzstil denken lassen. Zwischendurch gibt es Momente des Sich-Erhebens durch schwingende Arme und gestreckte Körper. Retardierung in Zeitlupe schafft Raum für energetische Spannung. Genauso wie sich Gemeinschaft aufbaut, zerfällt sie wieder. Nur eine Tänzerin, Symbol der Individualität, behält die Spannung nach oben als finale Botschaft einer möglichen existentiellen Veränderung durch den einzelnen.
Mit: Dani Gibson, Jasmine Henry, Mariia Malinina, Polina Medvedeva, Elisa Mestres, Anastasiia Uzhanskaia, Daniella Venter, Chiara Vitali, Margaret Whyte
Es ist ein interessanter Ballettabend, der einmal mehr zeigt, wie vielseitig heutiges Ballett und das Können der TänzerInnen des Bayerischen Staatsballetts ist.