Berlin – „Pure Bliss“ getanzt vom Stuttgarter Ballett

Ballettkritik "Pure Bliss" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Stuttgarter Ballett

Der renommierte schwedische Choreograf begann als klassischer Tänzer, wechselte 1990 zum innovativen Nederlands Dans Theater. In seinen rasanten Choreografien dynamisiert er klassischen Tanz mit modernen Ausdrucksformen. Er erzählt Geschichten neu und weiß Glück und Verzweiflung in emotionale Bilder und Energiefelder zu verwandeln.

Mit drei ganz unterschiedlichen Stücken zeigt Johan Inger sein großes Talent Musik zu visualisieren. Keith Jarretts berühmtes „Kölner Konzert“ inspirierte ihn zu „Bliss“, das Glück, uraufgeführt 2016 vom Aterballetto in Mailand, jetzt zum ersten Mal in Berlin zu sehen. Zwei Tänzer umkreisen sich, eine Tänzerin drängt sich dazwischen, immer mehr weitet sich der Kreis flirtender junger Menschen. Sechzehn Tänzer und Tänzerinnen vertanzen kribbelndes Frühlingserwachen, schwingen kraftvoll die Arme, dehnen sich diagonal, rollen am Boden, tanzen Ringelreihen, hüpfen und springen, dass die Zöpfe fliegen, klatschen und schnippen mit den Fingern exakt zu Keith Jarretts wechselnden Improvisationen und Variationen.

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Die TänzerInnen spiegeln die Stimmungen der Musik zwischen sprudelnder Rhythmik und zarter Annäherung, finden kurz Affinitäten in gleichförmigen Schrittfolgen, dynamisieren musikalische Wiederholungsschleifen in synchronen Sequenzen und rennen schließlich in alle Richtungen fröhlich davon. Einer wippt euphorisiert weiter, obwohl die Musik längst zu Ende ist. 

Ganz anders ist die Stimmung in „Out of Breath“ (Uraufführung 2002 in den Niederlanden, deutsche Erstaufführung 2019 in Stuttgart 2019). Eine schräg abfallende gebogene Mauer wird zum Ort unüberwindlicher Trennung. Inspiriert von der schwierigen Geburt seiner Tochter und der damit verbundenen Nähe von Tod und Leben weitet sich Johan Ingers Choreografie im Kontext unserer Tage und mit dem Wissen, dass der ungarisch-serbische Komponist und Violinist Félix Lajkó durch seine Musik Kulturen verbinden will, zum verzweifelten Kampf Grenzen zu überwinden. Die sechs TänzerInnen werden zum Sinnbild aggressiven Gegen- und energetischen Miteinanders. Sie begegnen sich mit riesigen Schritten, getäuschter Anmache, um gleich darauf brachial abzuwehren, dynamisieren als zuckende Energiebündel. Wie Ausdauersportler rennen sie im Kreis, springen kraftvoll über die Wand, wo sie verflacht. Hochgehalten zappeln die Tänzerinnen über der Mauer, um rücklings hinunterzufallen. Auch wenn die TänzerInnen die Seiten wechseln, bleiben sie getrennt, die einen vor, die anderen hinter der Mauer. Erst im behutsamen Vertrauen aufeinander gelingt es einer Tänzerin auf der Mauer zum Stehen zu kommen. Verschreckt erlebt sie die neue Freiheit mit Blick nach unten auf die getrennte Welt, die sie gerade verlassen hat. 

Nach diesem nachdenklichen Ende wird die Uraufführung von „Aurora´s Nap“ umso mehr zum Lacherfolg. Herrlich schräg und überaus neckisch macht Johan Inger aus „Dornröschen“ eine Persiflage höfischer und zeitgenössischer Eitelkeiten, denn Aurora wird nach 100 Jahren von einem aalglatten Hipster wachgeküsst.

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Ihr Prinz rollt mit dem Elektroroller herein, hinterdrein sein Partygefolge. Die Kavaliere und weiblichen Feen von einst und heute unterscheiden sich allerdings nur in den Details der Optik. Allesamt sind sie abgefahrene Typen in exaltierten Kostümen und Perücken, gelungene Karikaturen mit Alieneinschlag die Feen, gruftig silbern der Hofstaat und gestylt das Partyvolk. Beim großen Finale findet jeder den richtigen Partner durch farbsymbolische Details witzig markiert. Nur der Prinz entschwindet nach dem Pas de deux der Hochzeit. Heutzutage gibt es keine Prinzen mehr, dafür viel Party. Das Schloss ist aus Plastik und zum Schlussakkord knallen Luftschlangen.

Auf eine Stunde gekürzt wirkt Tschaikowskys abendfüllendes Märchenballett gerade ohne die sich aneinander reihenden Tanzreferenzen und die Mischung von Spitzentanzzitaten und Bewegungsklamauk herrlich erfrischend, zumal das Orchester unter der Leitung von Jacob Ter Veldhuis sehr temperamentvoll aufspielt. Das Ensemble kann nicht nur tanzen, sondern auch exzellent pantomimisch schauspielern, allen voran Agnes Su als zauberhafte Fliederfee.

Umjubelt wie bei einem Pop-Festival strahlt das Stuttgarter Ensemble bei den zahlreichen Verbeugungen in alle Richtungen. „Pure Bliss“ in Berlin möglich durch die Kooperation mit dem Staatsballett Berlin und der Deutschen Oper.