©Bernd Uhlig
Es ist die erste Szene, mit der Regisseur Oliver Mears Giocondas Geschichte zwischen Liebe, Hass und Eifersucht aus den Traumata ihrer Jugend erklärt und in die Gegenwart holt. Gleichzeitig entdeckt Antonio Pappano durch sein subtiles Dirigat in wunderbaren Charakterzeichnungen der Figuren und in den fröhlichen Chorpartien, in der die Grand opéra nach Victor Hugos „Angelo“ musikalisch in der Nachfolge von Giacomo Meyerbeer und Giuseppe Verdi am Rande des Verismo weit weg von pompöser Tonalität in filigraner Transparenz zur Wirkung kommt.
Barnaba, ein unsympathischer, wollüstiger Spitzel der Inquisition, zieht der kleinen Gioconda ein gold glänzendes verführerisches Kleidchen über und vergewaltigt sie. Sie sucht Schutz bei der jungen Mutter, die erblindet. Das erklärt nicht nur das innige Verhältnis der beiden, sondern auch die Blindheit der Mutter, die wegen der finanziellen Notlage immer nur weggeschaut hat und ihre ladyhafte Erscheinung mit finanziellem Background. Im „Tanz der Stunden“ wird später Giocondas Traumata durch drei Tänzerinnen als Kind, Teenager und junge Frau zwischen familiärer Harmonie, dem Tod des Vaters, der damit der verbundenen Verarmung, Giocondas Prostitution und der Wohlstand der Mutter zunächst liebevoll, dann bedrückend und schließlich witzig ironisch vertanzt. Gioconda liebt Enzo, doch dessen Liebe gilt Laura, der Frau des hohen Inquisitionsbeamten Badoero, der Enzo verbannte und selbst vor der Ermordung der eigenen Frau nicht zurückschreckt, als er ihre Liebe zu Enzo entdeckt. Barnaba intrigiert in alle Richtungen, um La Gioconda zu bekommen, doch sie durchkreuzt seine Pläne und wandelt sich zur Heldin, indem sie Laura und Enzo rettet. Dass sie sich nicht selbst, sondern Barnaba tötet, macht die Geschichte noch realistischer und zeigt ein neues Frauenbild dieser großen Opernfigur.
Mit Anna Netrebko in der Titelrolle gewinnt Gioconda eine faszinierende Aura. Sie betört durch wunderbare Klangfarben, weiß um die Kunst in Höhenlagen von fulminanter Dynamik blitzschnell in hauchzarter Innigkeit zu wechseln, in abgründige Tiefe zu changieren und Töne aus dem Pianissimo ganz hoch anzusetzen. Zwei kleine Unsicherheiten bleiben marginal. Anna Netrebko ist nach wie vor eine sängerische Ausnahmeerscheinung, deren Stimme selbst die großen Tutti unangestrengt überglüht, und ist nach wie vor schauspielerisch, inzwischen wieder jugendlich schlank, eine erstklassige Interpretin. Ganz in Schwarz, wie ein Schatten, beobachtet sie voyeuristisch im Hintergrund das Geschehen und verdichtet allein durch ihre Präsenz die Handlungsdramatik.
Jede Bewegung wird in dieser Inszenierung zur Expression, die im klug auf architektonische Großformen reduzierten Bühnenambiente und der kontrastreichen Lichtregie bestens zur Wirkung kommt. Säulenarkaden mit Blick auf Meer und Horizont, seitlich ein Kirchenportal genügen, um venezianische Atmosphäre und kirchliche Gläubigkeit, nicht zuletzt durch das Leitmotiv des übergroßen Rosenkranzes aufleuchten zu lassen. Nahtlos lassen sie sich in ein riesiges Festbankett und neue Örtlichkeiten verwandeln, ohne Gondeln dafür mit einer modern gigantischen Kreuzschiffsilhouette. Die ausgelassenen Massenszenen des Chors in heutigen Klamotten auf der Bühne, der Kinderchor offstage schlagen die Brücke von venezianischen Gesängen über den beginnenden Verismo bis in die Gegenwart.
Heimlicher Hauptdarsteller wird durch Luca Salsis Bühnenpräsenz der Spitzel Barnaba. Trotz der Bösewichtrolle singt und spielt er sich in die Herzen des Publikums.
©Bernd Uhlig
Jonas Kaufmann begeistert durch makellos sängerische Intonation und Dynamik in allen Tonlagen. Das gilt auch für Eve-Maud Hubeaux als Laura. In den Eifersuchts- und Liebesduetten bestechen sie durch Wohlklang und große Emotionalität. Angesichts dieser kraftvollen Stimmen wirkt Tareq Nazmis Bass etwas blass, was allerdings zu seiner bürokratisch steifen Rolleninterpretation des Inquisitionsbeamten durchaus passt. Mezzosopranistin Agnieszka Rehlis macht trotz ihrer aufrecht dominanten Haltung und distanzierenden Sonnenbrille die liebevolle Mutter hörbar.
Dass das alles so gut funktioniert liegt vor allem an der musikalischen Leitung Antonio Pappanos. Er interpretiert dieses wuchtige Werk, das durchaus zum temperamentvollen oder volkstümlichen Aufspielen verführen kann, derart empathisch, dass jede Passage zum Hörerlebnis wird. Gesang und Orchester sind wunderbar ausbalanciert geben den großen Emotionen Raum, ohne in Konkurrenz zu treten. Höchst differenziert und facettenreich, jeder Instrumentalklang klar hörbar untermalt das Orchestra dell’ Accademia Nazionale di Santa Cecilia die Emotionen, selbst eskalierende Eifersuchts- und Hassszenen werden nicht orchestral unter Druck gesetzt. So kommt jedes Solo, jedes Duett wunderschön zur Wirkung. Die kraftvollen Chorpassagen wirken schlank modern, ohne Volkstümelei, sondern auf manipulativen Populismus und individuelle Genusssucht zielend, die Tanzszenen optisch und musikalisch rasant rhythmisiert, „der Tanz der Stunden“ in duftiger Ton- und Bewegungsästhetik, wird diese „La Gioconda“ auf allen Ebenen ein synergetisches Gesamtkunstwerk.
Künstlerisches Team: Antonio Pappano (Musikalische Leitung), Oliver Mears (Inszenierung), Philipp Fürhofer (Bühne), Annemarie Woods (Kostüme), Fabiana Piccioli (Licht), Lucy Burge (Choreografie)
In den Hauptrollen Mit Anna Netrebko (La Gioconda), Agnieszka Rehlis (ihre blinde Mutter), Jonas Kaufmann (Enzo Grimaldo), Tareq Nazmi (Alvise Badoero, ein hoher Inquisitionsbeamter), Eve-Maud Hubeaux (Laura, seine Frau), Luca Salsi (Barnaba, ein Spitzel)