München – Schostakowitschs Oper „Die Nase“ setzt ein innovatives Zeichen zu Saisonbeginn unter der neuen Intendanz 

Opernkritik Schostakowitsch "Die Nase" in der Staatsoper München präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Bayerische Staatsoper, Wilfried Hösl

Im aufgeheizten literarischen Leningrad der 1930er Jahre wurde Gogols „Die Nase“ wieder en vogue. Seine Groteske über das Zarentum weitete Schostakowitsch zur Projektionsfläche für Stalins brachiale Diktatur und das obrigkeitshörige russische Volk.

Barrie Kosky machte aus der „Nase“ 2018 eine unterhaltsame Satire. Die Nase ist plötzlich weg. Als körpergroßes Exemplar mit zwei Beinen spaziert sie selbstständig herum, bringt alles durcheinander, steppt in zehnfacher Variation eigenwillig herum und am Schluss ist sie plötzlich wieder da mit der Quintessenz, der hochnäsige Kovaljov fällt auf die Nase und lernt nichts dazu. „Egal, wie man die Geschichte wendet. Solche Geschichten kommen vor in der Welt“. Ganz anders ist das Münchner „Nase“-Debüt.

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©Bayerische Staatsoper, Wilfried Hösl

Schostakowitschs Oper gewinnt ungewöhnlich politische Tiefe und trotz aller Groteske eine erschreckende Authentizität. Die Inszenierung setzt Zeichen in die Richtung, auf die das neue Leitungsduo zielt. Beide, Intendant Serge Domy und sein Wunsch-Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski wollen mit Opern des 20. Jahrhunderts das Programm der Münchner Staatsoper innovieren. 

Ein besonderer Schachzug ist, dass Kirill Serebrennikov Regie führt. Immer noch mit Ausreiseverbot belegt, weiß er nur zu gut um die Restriktionen und Willkürlichkeiten in Putins Russland. Verantwortlich für Regie, Bühne und Kostüme entwarf Serebrennikov von Moskau aus in Co-Regie mit Evgeny Kulagin starke Bilder zwischen autoritären Massenszenen, polizeilicher Omnipräsenz und Schikane auf der Bühne und dokumentarischen Videos im Hintergrund. Individuellem Leid wird  keinerlei Gehör geschenkt. Die Menschen inklusive Polizisten laufen mit zwei, drei und mehr Nasen herum, Kovaljov wird sie geklaut, will heißen, Schnüffeln ist erlaubt, Individualismus nicht.

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©Bayerische Staatsoper, Wilfried Hösl

So wird Serebrennikovs Nase zur doppelten Chiffre, einerseits für ein inhumanes System, das auf seine Untertanen abfärbt und als gigantisches Monument im Stil des sozialistischen Realismus zur heroischen Trophäe staatlicher  Gleichschaltung und Gefährlichkeit avanciert, andererseits jeglichen Individualismus stigmatisiert. „Mit Nase ist alles nur schlimmer.“ 

Grau in Grau und eiskalt präsentiert sich der russische Alltag. Nur das Orange der Straßenarbeiter und die Polizeiaufschriften auf den Jacken leuchten. Ständig schneit es. Die Schneeberge werden immer größer als Ausdruck desolater menschlicher Beziehungen. Schneeschaufeln und Wodkatrinken sind die Hauptbeschäftigungen, wenn nicht gerade wieder Straßenbarrikaden aufgebaut werden, ein Reiterdenkmal mit spitz bedrohlichem Sockel oder die Miliz mit fünf Wagen breitseitig anrollt, ironisch in Pappmaché, aber mit Scheinwerferlicht doch für Angst und Schrecken sorgt.

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©Bayerische Staatsoper, Wilfried Hösl

Immer wieder schiebt sich die Amtsstube der Polizei inklusive Gefängniszelle von der Seite auf die Bühne als Zeichen permanenter Überwachung. Wer einsitzt, muss um seine Nase fürchten. Fischer angeln einzelne Körperteile aus einem aufgeschlagenen Eisloch. Eine Protestbewegung verschwindet im Nu. Es bleibt eine triste Häuserfassade, in der die Frauen stereotyp Fenster putzen, obwohl es so rein gar nichts zu sehen gibt. Kovaljov hat zwar in dieser Silvesternacht seine Nase wieder im Gesicht, sackt aber völlig einsam und alkoholisiert zusammen. Der rote Luftballon eines kleinen, nicht minder verlassen wirkenden Mädchens platzt. Alle Luft ist aus diesem System heraus. Nichts wird sich ändern weder im neuen Jahr noch für die nächste Generation. 

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©Bayerische Staatsoper, Wilfried Hösl

Über 30 Sänger in doppelt so vielen Rollen singen, oft in bedrohlicher Tiefe, verzweifelt Boris Pinkhasovich als Kovaljov auf der Suche nach seiner Nase, ohne die er sich, sozusagen als Individualist gebrandmarkt, nicht mehr sehen lassen kann. Resolut und selbstbestimmt funkelt Laura Aikin stimmlich als aufgetakelt „ehrwürdige Dame“. Sie hat lange genug gelebt, um Bescheid zu wissen und  lässt sich schon im Sarg herumtragen. Jedes Detail, mag es noch so abstrus übersteigert sein wie ein Mephisto mit metallischem Riesenschwanz, wirkt auf der reflektierenden Ebene zutiefst metaphorisch und authentisch. 

Genauso zersplittert, aus alltäglichen Szenen collagiert wie das Libretto ist die Musik, brillant von Vladimir Jurowski dirigiert, jeder Einsatz von funkelnder Präzision. Er bringt alle instrumentalen Tonfarben, klanglichen Aufschreie und Stimmungsverschiebungen Schostakowitschs zum Leuchten. Nicht jazzig, sondern wie eine Kriegsmaschinerie hämmert die 9-köpfige Schlagzeugruppe direkt auf der Bühne im Gegenlicht zur Schattenattrappe degradiert. Posaunen und Trompeten schmettern elenfantös oder zackig schräg wie im Zirkus. Trommelwirbel signalisieren erhöhten Pulsschlag, Gongtöne Pausen, aber auch den absoluten Crash. Was die Groteske nur latent erzählt, wird durch die Musik erlebbar, bei allem Grauen ein ganz tiefes Gefühl leidgebeutelter Melancholie durch die Oboe und sehr subtile Streicher, vom Fagott zur Trauer verdüstert. 

Künstlerisches Team: Vladimir Jurowski (Musikalische Leitung), Kirill Serebrennikov (Regie, Bühne, Kostüme), Evgeny Kulagin (Co-Regie), Tatjana Dolmatovskaja (Kostümbild), Shalva Nikvashvili (Masken), Michael Bauer (Beleuchtung), Stellario Fagone (Chöre) 

Es singen unter anderem: Boris Pinkhasovich, Sergej Leiferkus, Laura Aikin, Andrey Popov, Sergey Skorokhodov, Anton Rositskiy, Sean Michael Plumb, Gennady Bezzubenkov

Die Inszenierung in Kooperation mit Moskau entstanden. Die erste Vorstellung am  10. November ist bereits ausverkauft.

Am Mittwoch wird die Vorstellung in der Münchner Staatsoper ab 19:30 Uhr auf der Webseite der Staatoper live mitzuerleben.