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Berlin – Mozarts „Don Giovanni/Requiem“ als Lehrbeispiel für Seelenwanderung

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Berlin – Mozarts „Don Giovanni/Requiem“ als Lehrbeispiel für Seelenwanderung

©Komische Oper, Foto: Frol Podlesnyi

Don Giovanni ist tot. Seine gestylten Geliebten nehmen Abschied, beugen sich tief in die Holzkiste, in der er liegt, um ihn ein letztes Mal zu küssen. Plötzlich belebt sich seine erloschene Pulskurve. Nein, er wurde nicht wachgeküsst, sondern…

er tritt ins Reich der Seelen ein, nach der buddhistischen Lehre der Wiedergeburt eine 49-tägige Phase, in der der Tote noch einmal mit seinem Leben konfrontiert wird, um durch seine bösen und guten Taten sein irdisches Verhalten zu reflektieren. Aus der Glaubenshaltung, dass der Mensch, der Falsches getan hat, wiedergeboren wird, inszeniert Kirill Serebrennikov „Don Giovanni/Requiem“ vom Ende aus. Es ist der dritte Teil seiner Da-Ponte-Trilogie, deren verbindende Elemente er in den Kontrasten sieht. In „Cosi fan tutte“ war es der Unterschied zwischen Männern und Frauen, in „Le nozze de figaro“ das Verhältnis von Reich und Arm und im „Don Giovanni“ das Extrem zwischen Leben und Tod, dem optimistischen „si“ und pessimistischen „no“. 

Don Giovanni die wichtigsten Stationen seines Lebens noch einmal erleben zu lassen, um sein Tun zu bewerten, ist eine originäre Konzeption, die nach dem Höllensturz durch die Kombination mit Mozarts „Requiem“ noch an Tiefe gewinnt. Bei Serebrennikov schmort Don Giovanni nicht in der Hölle, schwebt stattdessen in der Luft und schlägt einen Salto nach dem anderen. Die Frauen zu lieben, Don Giovanni liebt sie alle querbeet, ist kein Verbrechen und was sich in seinem Leben als Lüge, was als Wahrheit darstellt, ist letztendlich eine Frage der Perspektive, oft erst nach dem Tod erkennbar, was Serebrennikov durch seine sehr präzise Personenregie von Anfang an immer wieder visualisiert und Fernando Suels Mendoza als personalisierte Seele verbalisiert.

Mit Neonleuchten umrahmte Raumkästen schaffen ein flexibles Stadtambiente, ermöglichen voyeuristische Einblicke, nahtlose Perspektivwechsel zwischen Dies- und Jenseits und fungieren als Projektionsflächen für orgiastische Partys.

Wie Serebrennikov seine Operninszenierungen durch Nebenfiguren temperamentvoll bewegt und tänzerisch, ästhetisch und skurril aufmischt, hat er schon wiederholt bewiesen. Jetzt überrascht er durch szenische Visualisierung der Seelenwanderung, aber auch bezüglich der Rollenbesetzung, indem er den Part der Donna Elvira von Sopranist Bruno de Sá singen lässt, womit Don Giovannis Liebesleben sich um eine weitere Facette ganz im Stil unseres woken Zeitgeists weitet, durch de Sás ungewöhnliche Stimme, charmante Persönlichkeit und starke Bühnenpräsenz ein Volltreffer. Die Frauen sind bei Serebrennikov so unschuldig nicht. Adela Zaharia als Donna Anna überzeugt mit kraftvoll durchdringender Stimme, die hinter ihrer Rache die Leidenschaft für Don Giovanni versteckt. Penny Sofroniadou als schwangere Zerlina hält die Beziehung zu Don Giovanni raffiniert in Schwingung. Die schönen Stimmen von Augustín Gómez (Ottavio) und Philipp Meierhöfer (Massetto) bleiben rollenadäquat im Hintergrund. Tommaso Barea trumpft sängerisch und schauspielerisch als Leporello auf und bildet ein fulminantes Äquivalent zu Don Giovanni, den Hubert Zapiór gegen das übliche Klischee des Casanovas aus der Distanz des Toten, mit steifem Hut bewusst verfremdet, zuweilen weniger leidenschaftlich als geistig distanziert interpretiert. Tijl Faveyts, als Commendatore die einzige tiefe Stimme, hätte bei der besuchten fünften Vorstellung durchaus noch durchdringender sein können. 

Trotz der markanten Timbres wirken die Ensemble-Arien sehr harmonisch. Die Rezitative gewinnen durch rhythmisierte Bewegungsdynamik an Temperament, sehr klar vom Cembalo akzentuiert. Das Orchester spielt unter der musikalischen Leitung von James Gaffigen ganz mit Fokus auf die SängerInnen, die selbst in den orchestralen Fortissimi sehr gut zu hören sind. Das gilt auch für das finale Requiem, bei dem Chor und Orchester im „Recorder“ und „Lacrimosa“ die Perfektion von Mozarts Musik hörbar machen. 

Das ist alles sehr anspruchsvoll, analytisch durchdacht, voller origineller Überraschungen, von plakativ burlesken „si“- und „no“-Bewertungen über tänzerische Seelenspiegelungen bis zu fernöstlichen Symboleinbindungen kurzweilig inszeniert und gespielt, aber durch die vergeistigte Konzeption und vor allem durch die oberlehrerhaft moralischen Sprechbeiträge und die sich ständig wiederholenden Sex-Videos geht der ursprüngliche Charme, die prickelnde Euphorie des Verführens und Verführtwerdens vollkommen verloren. Die Inszenierung ist ein interessantes Experiment, spiegelt viel Zeitgeist, emotional im Sinne einer Mozartschen Endorphinisierung zündet sie nicht. 

Künstlerisches Team: Kyrill Serebrennikov (Inszenierung, Bühnenbild, Kostüme), Evgeny Kulagin (Choreografie), Sophie Jira, Daniil Orlov (Dramaturgie), David Cavelius (Chöre), Olaf Freese, Johannes Scherfling (Lichtdesign), Ilya Shagalov (Videodesign)