©Falk von Traubenberg
Mit der Inszenierung Nicola Antonio Porporas „Carlo il Calvo“ („Karl der Kahle“) aus dem Jahr 1738 landet Emanuel Cencic einen Volltreffer. Er selbst zeigt sich als Multitalent. Er ist nicht nur Festivalleiter, Chef der kooperierenden Künstleragentur Parnassus Arts Productions, sondern er singt auch die Rolle des Lottario, Mitkaiser Karls des Frommen, und führt ausgesprochen gekonnt Regie, legt falsche Fährten, amüsiert ungemein in den kleinen Details, die Solisten und Statisten sehr witzig umzusetzen wissen. Als Sänger weiß Cencic ganz genau, was er den Solisten schauspielerisch zumuten kann, als Regisseur um die unterstützende Wirkung von Bewegungsdynamik, ironischer Akzente und optischer Ästhetik.
Im Team mit Bühnenbildnerin Giorgina Germanou, Kostümbildnerin Maria Zorba, Lichtdesigner David Debrinay und Choreographin Dimitra Anatonaki entsteht ein in sich stimmiges Gesamtkunstwerk, verortet in einem patinierten Jugendstilpalais, wegen der türkisen Farben, des tropischen Gartens und ständigen Rauchens inklusive Oldtimerlimousine gut in Cuba vorstellbar, wegen der Kleider in den 1920er Jahren.
Während der Ouvertüre enthüllt ein großes Familiendinner die Vorgeschichte. Ein Hustenanfall unterbricht die Szenerie, ein Plumps nach hinten, ein Schrei, schon ist man mitten drin in den Erbwirren um die Nachfolge des Familienoberhaupts, das gerade um die Ecke gebracht wurde. Historisch ist Ludwig der Fromme gemeint. Cencic macht daraus eine mafios amüsante Familienstory, in der eineinhalb Dutzend Statisten Handlung und Musik mit Herzblut konterkarieren. Bei Porporas orgiastischen Arien kann sich keiner mehr still halten. Der Bub hopst auf dem Stuhl mit, die Damen fächeln um die Wette, die Herren mit den Hüten. Ein Liebespaar lässt die Bananenstaude wackeln. Es wird intrigiert, was das Zeug hält, entführt, gekämpft, geschossen und doch kommt wieder alles ins Lot.
Die Story ist leicht durchschaubar. Es geht um die Macht zu herrschen, koste es, was es wolle. Ludwig der Fromme hatte zunächst Lottario, den Sohn aus erster Ehe zum Mitkaiser eingesetzt, dann im Testament zugunsten des 6-jährigen Karls aus seiner zweiten Ehe mit Giuditta als Nachfolger bestimmt. Krasser könnte der Unterschied nicht sein, Lottario, von Cencic als raffinierter Taktiker im Greisenalter angelegt, trotz Stock weiten Schrittes zielstrebig voranschreitend, brutal in Worten und Taten und als verkappter Homosexueller voller Gier, im Gegensatz dazu Karl, noch ein Kind in kurzen Hosen, seh- und gehbehindert, als Herrscher undenkbar. Lottario will den Konkurrenten ausschalten. Sein Vertrauter Asprando setzt das Gerücht in Umlauf, dass Karl ein Bastard aus einer Liason Giudittas mit dem spanischen Fürsten Berardo. Durchaus möglich, denkt man, wenn man die beiden miteinander turteln sieht. Doch Giuditta will nur ihre beiden Töchter verheiraten. Mit Nian Wang als ältere Eduige, einen Kopf größer als der Fürst (Bruno de Sá), gerät das naive Paar in ironische Schieflage. Die zweite Tochter Gildippe soll Adalgiso, den Sohn Lottarios, heiraten. Schon längst heimlich füreinander entflammt, wird der Erbstreit zum Prüfstein, die Entführung Carls gibt Raum für Kampf und Schießereien. Das Gute siegt. Anlass für ein flottes Tänzchen mit Charleston-Figuren und ein Dinner. Ein Schrei – der Kampf um die Macht hört nicht auf.
Der Clou sind natürlich die atemberaubenden Arien, von Cencic bestens besetzt. Jede Arie entwickelt sich zum Feuerwerk, das in den Wiederholungen mit immer neuen Varianten verblüfft und nach dem letzten Da Capo ohne Orchester noch höher, mit noch mehr raffinierten Phrasierungen und mitreißend tänzerischer Energie mit begeisterten Applaus honoriert wurde.
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Faszinierend ist das Männerquartett. Cencic als Lottario setzt rollenadäquat auf gesangliche Resolutheit, die sich deutlich von allen anderen Stimmen abhebt. Franco Fagioli als Sohn brilliert zwischen Rebellion und leidenschaftlicher Liebe mit faszinierenden Spitzentönen.
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Sopranist Bruno de Sá verkörpert voller Glanz den bescheidenen, doch für die Gerechtigkeit glühenden Helden.
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Überaus selbstbewusst, mit erotischer Aura zeichnet Tenor Petr Nekoranec den intriganten Emporkömmling Asprando als Schurken, der sich nicht in die Karten schauen lässt und vor nichts zurückschreckt.
Bei den Frauen glänzt Suzanne Jerosme stimmlich und schauspielerisch anfangs als kokette Lebedame, berührt dann als beschützende Mutter Carlos im Schmerz nahe am Wahn kolorierend. Mezzosopranistin Nian Wang (Eduige), gelingt erst bei der zweiten Arie ihr Stimmvolumen adäquat zu entfalten und in tieferen Tonlagen hörbar zu werden. Absoluter Höhepunkt ist Julia Lezhneva als Gildippe. In ihren betörenden Koloraturen werden alle Höhen und Tiefen der Liebe hörbar.
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Das Duett mit Franco Fagioli, das einzige in der ganzen Oper, ist grandios.
Unter der musikalischen Leitung von George Petrou, künstlerischer Leiter der Göttinger Händelfestspiele und am Cembalo, bleibt der Fokus voll auf den Solisten. Die Musiker seines Orchesters Armonia Atenea unterstützen durch warme satte Klangfarben, klare Phrasierungen und tänzerische Dynamik das Bühnengeschehen sehr harmonisch und entdecken in den Intermezzi die klangliche Vielfalt von Porporas Barockmusik.