Mit Cellointonationen der ganz anderen Art gelang es Sophie-Justine Herr sich über die Longlist 3/2024 für die nächsten Bestenliste zu nominieren. Das Programm ihres Solo-Debüts ist außergewöhnlich. Mit Musik von fünf Komponistinnen aus fünf Kulturkreisen eröffnet sie fern jeglicher Weltmusik-Mainstream-Rhythmen spannende Hörerlebnisse, die sie höchst virtuos und empathisch interpretiert…
©PASCHENrecords, 2023
„:innen“ beginnt mit der Komposition „AA-GAI“ der Südkoreanerin Younghi Pagh Paan (*1945), die in abgründiger Tiefe den Wurzeln ihrer Kultur nachspürt, wobei extreme Dissonanzen psychische Irritationen und Verletzungen aufleuchten lassen. Kleine Accelerationen signalisieren Abstand, doch ständige Bedrohung wird fühlbar durch dunkle sägende Bogenstriche und gezupft durch schneidende Tonschwingungen. Helle Töne leuchten visionär auf, mutieren ins Weinerliche und kämpfen sich doch pianissimo glasklar nach oben, um von neuen Klangschattierungen und -verzerrungen schmerzhaft verdrängt zu werden. Diese Musik erschließt sich intuitiv, weitet sich aber, wenn man die Intention der Komponistin miteinbezieht. Von einem zeitgenössischen koreanischen Gedicht inspiriert schuf sie eine expressive Hommage für alle längst verstorbenen Menschen, deren Wesen in uns lebendig geblieben ist, und für all die Menschen, die ihr Leben der Wahrheit geopfert haben.
Ganz anders, lichtflirrend, verarbeitet die finnische Komponistin Kaija Saariaho (1952-2023) die Vergänglichkeit in ihren einmütigen musikalischen Miniaturen „Sept Papillons“. Man fühlt sich regelrecht von einer Schar von Schmetterlingen umflattert. Mit etwas tieferer Tonlage, halbtonigem Auf und Ab, alternierenden Crescendi und Decrescendi werden zunächst nicht verortbare Bedrohungen spürbar, die extreme Höhenflüge provozieren. Final verdichtet sich die Tonalität zu maschineller Akustik. Verstärkt durch Klopfgeräusche wie ein Todeskommando immer näher kommend hat Natur keine Chance mehr.
Judith Shatin (*1949) aus den USA baut in ihren drei Stücken „For the Birds“ Tonaufnahmen von Vogelstimmen aus ihrer Lieblingsregion Yellowstone in ihre Celloimprovisationen ein. In jedem Satz geht es um bestimmte Vogelarten und Cellotechniken. Im sich gegenseitig inspirierenden Wechselspiel von markanten Singvögeln, klopfenden Spechten, Rufen von Raubvögeln, flügelschlagenden Wasservögeln und perkussiven Cellopassagen entsteht ein flirrender Naturkosmos in exotischer Klangvielfalt wunderbar von Herr interpretiert.
Bei Elisenda Fábregas (*1955) steht das Cello in seiner tänzerischen Ausdruckskraft im Mittelpunkt. Inspiriert von den Liedern ihrer katalanischen Heimat erfindet sie Tänze, wobei nur im letzten der vier Kompositionen die Sardana den Rhythmus vorgibt. In satten Bogenstrichen arbeitet Herr über das tänzerische Potential die lyrische Komponente des sehnsüchtigen Erinnerns heraus, das sich in die Höhe schraubend träumerisch weitet und immer wieder von dissonanten Strichen durchkreuzt ins Irdische abtaucht.
Final überrascht die polnische Komponistin Teresa Grebschenko (*1984) mit einem Stück für eine singende Cellistin auf der Basis von Emily Dickinsons Gedicht „That Love is all there is“ (1765). Zunächst hauchzart a capella gesungen mischt sich das Cello zunächst subtil, dann sehr rigoros ein. Die Stimme gewinnt an Kraft und tritt mit einem zarten Echo in Dialog. Immer wieder vom harten Cellospiel unterbrochen drängen sich Assoziationen von genderspezifischen Kontrastwelten auf. Jede Komponistin ist auf ihre Weise großartig, exzellent von Herr interpretiert.
Das Booklet ist informativ, allerdings durch die kleine Schriftgröße und im kontrastarmen Grau anstrengend zu lesen.
Sophie-Justine Herr „:innen“ PASCHENrecords 2023,