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Je überdrehter, desto besser wurde Schlingensiefs Markenzeichen. Er hatte das Talent das Unmögliche zu realisieren, immer von Neuem zu schocken, indem er die Fehler politischen Versagens in skurrile Satiren und spektakuläre Straßenaktionen verpackte. Der Querschnitt durch sein kreatives Schaffen als Filmregisseur, Schauspieler, Performer, Politakteur zeigt einmal mehr, dass es nichts von seiner Aktualität verloren hat. Immer noch beschäftigen uns die gleichen Probleme, schlimmer noch, sie haben sich intensiviert.
Ein doppelt belichteter Urlaubsfilm seines Vaters weckte Schlingensiefs Interesse am Film als kleiner Junge. Er liebte Rollenspiele und wusste immer genau, wie was sein musste. Mit 10 Jahren drehte er seinen ersten Film mit einer Super-8-Kamera. Die Zulassung zur Filmhochschule wurde ihm trotz Beziehung zuerst verweigert. Trotzdem filmte er. Für „Menü Total“ bekam er eine Einladung zur Berlinale. Publikumsmäßig ein Flop, war der Film imagemäßig ein Erfolg, der ihm endlich die Türen zum Filmstudium öffnete. Dann startete er durch, wurde durch seine Filme Ikone des Widerstandes, von der Volksbühne entdeckt und als Opernregisseur in Bayreuth zum provokativen Aushängeschild des Establishments. Wäre Schlingensief nicht seiner Krebskrankheit erlegen, die er autobiografisch als Autor dokumentierte, hätte Burkina Faso nun ein Opernhaus.
Mit „Schlingensief – in das Schweigen hineinschreien“, ihrer ersten Regiearbeit, gelingt Bettina Böhler mehr als nur ein exzellentes Porträt. Nicht durch Inszenierung und Interpretation, sondern allein durch die Montage des Materials, überblendet von den Filmen der Eltern über seine Kindheit, entsteht ein kaleidoskopartiges Gesamtkunstwerk, das Schlingensiefs Wirken im Kontakt mit vielen berühmten Persönlichkeiten sehr authentisch und respektvoll nachzeichnet. Dabei bleibt der Fokus allein auf Schlingensief.
Er führt wie im Leben das Wort, immer mit dem Ziel Politik und Öffentlichkeit wachzurütteln, „In das Schweigen hineinschreien“. In seinen Filmen und Aktionen geht er immer bis an die Grenze des Zumutbaren. Gleichzeitig wirkt er durch die Auswahl der Filmdokumente durch seine jungenhafte Aura, selbstironische Art und seinen verständnisvollen Umgang mit seinen Eltern sehr sympathisch.
Sechs Kinder wollten seine Eltern. Es blieb nach langer Wartezeit bei einem.
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So beschrieb sich Schlingensief gern „Ich bin sechs Kinder “, eine treffliche Formulierung für seine überbordende und polarisierende Energie, die Bettina Böhler durch unterschiedliche Live-Zitate immer wieder einblendet.
Über 80 Filme hat Bettina Böhler ediert. Sie beherrscht das Metier der Filmmontage perfekt, weiß mit der Fülle von Material umzugehen, das ihr der Filmproduzent Frieder Schlaich von der Berliner Filmgalerie 451 zur Verfügung stellte. Er brachte seit 1998 alle Filme Schlingensiefs heraus und baute gleichzeitig ein einzigartiges Archiv mit Mitschnitten von Theaterarbeiten, Kunstperformances, Interviews und Talkshow-Auftritten auf. Bettina Böhler wählte mit die krassesten Szenen aus.
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In „100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker“ (1989) wetzt Udo Klier als Hitler seinen Po in Kacke, um als letzte Hinterlassenschaft eine Leinwand zu bemalen. Im „Deutschen Kettensägenmassaker“ (1990) wird die deutsche Wiedervereinigung zur Persiflage kapitalistischer Gier, als eine bundesdeutsche Metzgerfamilie zwischen eingeblendeten Fleischbatzen mit der Kettensäge Jagd auf Ossis macht. Noch betroffener machen Schlingensiefs öffentliche Aktionen wie auf dem Wiener Opernplatz, wo er in einem Container analog zu „Big Brother“ Passanten über die Abschiebung von Flüchtlingen entscheiden ließ.
Bettina Böhler verschweigt die misslungenen Aktionen nicht. Sechs Millionen Arbeitslose, badend im Wolfgangsee sollten vor Helmut Kohls Domizil das Wasser lebensbedrohlich ansteigen lassen. Nur ein paar kamen. Was war? „Nichts“ kommentierte Schauspieler Martin Wuttke die Aktion nüchtern.
Bei all dem spielte sich Schlingensief weder als Besserwisser noch als Moralapostel auf. Er spiegelte nur wie eine Kamera die Wirklichkeit in überzogenen Bildern, Geschichten und Aktionen, die jetzt 10 Jahre nach seinem Tod nichts von ihrer Problematik verloren haben. Ob man seine Art der Provokation nun mag oder nicht, Bettina Böhlers Dokumentarfilm beweist einmal mehr, welch Ausnahmepersönlichkeit Schlingensief war.