Film – „Das neue Evangelium“ von Milo Rau

Filmkritik "Das neue Evangelium" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

© Armin Smailovic

„Das neue Evangelium“ beginnt beim Casting, vorwiegend Laiendarsteller. Jesus und seine Apostel fahren nicht über den See Genezareth. Sie kommen vom Meer, von Afrika. Gefilmt wird im süditalienischen Matera, das mit seiner alttestamentarischen Aura schon Pasolini und Mel Gibson für ihre Passionsfilme inspirierte. Im flirrenden Sonnenlicht erhebt sich die Stadt wie ein Festung, umgeben von wüstenhafter Kargheit und Gemüseplantagen. Auf einem Spaziergang weist Milo Rau auf einen Hügel. „Schau ihn dir genau an, dort wirst du sterben“. Yvan Sagnet, der Jesus spielen wird, lächelt, wie er noch oft lächeln wird, ein berührend ehrliches Lächeln, das erst unter dem Kreuz verlischt.

Milo Rau interviewt die Migranten, filmt die desolaten Zustände in den Behausungen ohne Wasser und medizinische Versorgung. Ohne Papiere sind die Migranten der Lohnwillkür ausgesetzt, während ganz nah ordentliche Häuser ungenutzt vorhanden wären. Er kanalisiert die Unzufriedenheit der Migranten, gibt ihnen als Mitwirkende im Film ein neues Selbstbewusstsein. Unvermittelt schwenkt die Kamera auf eine steile Felswand. Der Teufel provoziert Jesus. Yvan Sagnet lächelt milde. „Das muss aggressiver sein“, erklärt Milo Rau. Klappe zwei. Noch einmal?  Yvan Sagnet ist verunsichert, winkt ab „Wieder nichts!“ Doch, jetzt, passt die Szene. Sehr respektvoll und verständnisvoll greift Milo Rau als Regisseur ein.

Sichtlich berührt verfolgen die Migranten Filmsequenzen aus Pasolinis Film im Kino. Das ist also „Das neue Evangelium“. Doch Milo Raus Version wird anders. Jesus ruft zur „Revolte der Würde“ auf, als man plant das Ghetto abzureißen, wodurch die Migranten arbeits- und heimatlos würden. Auf die Demonstrationen reagieren die Bürger aggressiv aus Sorge über das negative Image Materas und werden doch hineingezogen in den Sog der Dreharbeiten. Gefragt, warum er einen Häscher spielen wolle, entlarvt sich ein Italiener ,brutal auf einen Stuhl einschlagend, als sadistischer Rassist. 

Jesus kann den Abriss nicht verhindern. In der Ödnis versammelt er seine Jünger unter freiem Himmel um sich zum Abendmahl.

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Als eine Polizeistreife kommt, Polizisten in Kostümen  römischer Häscher Jesus suchen, vermischen sich Gegenwart und Vergangenheit. Die Passion beginnt mit dem verräterischen Judaskuss. Jesus wird ausgepeitscht, wenn auch nicht sichtbar. Seine brutalen Schreie, die Spuren auf dem Rücken, die Dornenkrone auf dem Kopf sind bedrückend brutal. Dieser schwarze Jesus schwankt mit dem Kreuz die steile Gasse hoch.

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Aber Milo Rau durchbricht auch hier die Filmillusion, zeigt Bürger, wie sie teilnahmslos auf ihren Handys mitfilmen und andere, die mitfühlen, weinen. Veronika, eine Italienerin, trocknet Jesus den Schweiß im Gesicht, ein Mann gibt ihm zu trinken. Der Bürgermeister, der die Filmemacher am liebsten des Ortes verwiesen hätte, trägt für wenige Momente das Kreuz Jesu. Am Kreuz blickt dieser Jesus nicht in den Himmel. Das schäumende Meer bildet die Abschlusssequenz mit einer letzten Anspielung auf das Leid der Migranten.

Mit dem Film „Das neue Evangelium“ stärkt Milo Rau das Bewusstsein, „dass wir uns nicht leisten können, nichts zu tun“ und tatsächlich bewirkte der Film eine positive soziale Veränderung. In Matera durften nach den Filmarbeiten die Migranten in die leerstehenden Häuser einziehen und bleiben. Sie heißen jetzt die „Häuser der Würde“. 

„Das neue Evangelium“ ist on-Demand bereits im Internet zu sehen und kommt nach dem Lockdown in die Kinos.