©X Verleih, 2024
Einmal gehört, immer in den Ohren wurde Ravels „Bolero“ zu einem der populärsten Klassiker der Welt und, schon seit der Uraufführung erotisch interpretiert, als Filmmusik von „Traumfrau“ (1979) mit Bo Derek zum Orgasmushit. Der Komponist Ravel hatte ganz andere…
Assoziationen, denen Filmregisseurin Anne Fontaine in ihrem neuen Film „Bolero“ nachspürt.
Gerade durch die Prüfung für ein Stipendium gefallen ist Maurice Ravel froh von der sehr reichen und exzentrischen Tänzerin Ida Rubinstein den Auftrag bekommen, eine sinnlich betörende Musik für ihr nächstes Ballett zu komponieren. Dafür wollte er einige Tänze aus Isaac Albéniz’ Klavierwerk „Ibería“ umschreiben, aber die Transkriptionsrechte waren von den Erben bereits an Enrique Fernández übergeben worden. Eine neue Idee zu entwickeln fällt Ravel sehr schwer.
Sehr subtil beleuchtet Regisseurin Anne Fontaine im historisch atmosphärisch ausgestatteten Pariser Ambiente der Haute Volée, was Maurice Ravel bewegt, beschäftigt, betrübt und inspiriert.
Fünfmal durch die Prüfung des „Prix Rome“ gefallen zu sein, hinterließ bei Ravel eine innerliche Unsicherheit, die seine große Selbstkritik und menschliche Distanz erklärt, von Raphaël Personnaz sehr überzeugend und subtil in Szene gesetzt. Man wirft Ravel Anleihen bei Debussy vor und fehlende Emotionen in seiner Musik, aber darum geht es ihm gar nicht. Sein Kopf ist voller Musik. Jedes Alltagsgeklapper wird zum Rhythmus. Doch die Ideen zu Papier zu bringen, fällt ihm sehr schwer. In empathischen Szenen lässt Fontaine die Zuschauer Ravels Fühlen, Denken und Komponieren sinnlich erleben. Das Hämmern einer Industrieanlage wird zum Orchester, das Überziehen eines roten Damenseidenhandschuhs zum Symbol für seine unerfüllte Liebe zu seiner verheirateten Muse Misia Sert. Dazwischen tauchen Szenen aus seiner Militärzeit als Sanitäter auf, der Tod seiner geliebten Mutter und immer wieder die Spaziergänge mit Misia Sert.
Inspiriert von Maschinen- und Weckergeräuschen, einigen Takten aus dem Volkslied „Valencia“ entsteht schließlich der „Bolero“, ein Musikstück mit einer völlig neuen Struktur. Eine 1-minütige Melodie wiederholt er 17-mal, wobei sie sich zu einem hypnotischen Crescendo aufbaut, final auseinander fällt und regelrecht explodiert, für Ravel Ausdruck der fortschreitenden Technisierung. Er ist entsetzt von Rubensteins Ballettinszenierung, über die sich erotisch windende 43-jährige Tänzerin umringt von 20 jungen Tänzern, im Film der dramaturgischen Wirkung geschuldet auch mit Tänzerinnen. Doch das Pariser Publikum ist begeistert. Ravel avanciert plötzlich zu einem umjubelten Komponist, der in USA und Europa erfolgreich dirigiert. Doch seine Erschöpfung, Kopfschmerzen und Vergesslichkeiten geben immer mehr Anlass zur Sorge. Er wird am Kopf operiert, fällt in ein Koma, aus dem er nicht mehr erwacht. Was bleibt, ist sein Bolero, den er final in halluzinogener Schwarz-Weiß-Verfremdung mit großem Orchester und einem brachialen Crescendo dirigiert, über das hinweg ein schmaler Tänzer, durchaus als Alter Ego Ravels interpretierbar, seine unermüdlichen Saltos und Sprünge tanzt,
„Bolero“ ist ein gelungenes Künstlerporträt, eine würdige Hommage zu seinem 100. Geburtstag, eingebettet in einen dekorativen Spielfilm, der gerade durch die inzwischen schon recht kommerzielle Vermarktung des „Bolero“ ein ganz neues Hörverständnis ermöglicht.
Künstlerisches Team: Anne Fontaine (Drehbuch, Regie), Jacques Fieschi, Pierre Trividic (Mitarbeit am Drehbuch), Bruno Coulais (Komponist), Christophe Beaucarne (Chef-Kameramann), Thibaut Damade (Chef-Cutter), Anaïs Romand (Chef-Kostümbildner)
Mit: Raphaël Personnaz (Maurice Ravel), Jeanne Balibar (Ida Rubinstein), Doria Tillier (Misia) u.a.