Steven Derix, Marina Shelkunova „Selenskyj – Die ungewöhnliche Geschichte des ukrainischen Präsidenten“

Buchkritk Selenskyj. Die ungewöhnliche Geschichte des ukrainischen Präsidenten" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Edel Verlagsgruppe, 2022

Das Buch beginnt mit dem spöttisch ignoranten Blick Putins auf den „Schauspieler“ Selenskyji als Ausdruck seiner Geringschätzung. Putin hat sich geirrt, denn wenn Selenskyj „etwas will, lässt er nicht locker.“ Mit dieser Willensstärke eroberte er das russische Publikum als Comedian und das ukrainische Volk im Krieg. 

Der Weg, war wie alles in Selenskyis Leben steinig. Russischsprachig in der ostukrainischen Industriestadt Krywyj Rih von der berufstätigen Mutter und der Großmutter aufgezogen, weil der Vater als Wissenschaftler in der Mongolei bleiben wollte, war das Geld knapp, die Theaterausbildung in Moskau zu teuer. Trotzdem war der jüdische Junge schon mit 20 Jahren als Komiker ein Bühnenstar. Mit seinen Freunden entwickelte er Kabarett und zog damit über die Lande. Immer ganz am Publikum lernte er die Menschen der Ukraine kennen. Er spielte immer den ukrainischen Präsidenten, sein Freund Putin. Jede Pointe knallte. Das Publikum war immer begeistert. Doch das verdiente Geld reichte gerade, um weiterzumachen. Obwohl sie zu den besten Comedians des Landes zählten, wurden sie lange nicht zum großen Kabarett-Wettbewerb eingeladen. Um im Westen seiner Heimat verstanden zu werden, lernte Selenskyj, obwohl es ihm schwer fiel, perfekt Ukrainisch. Er baute die Kabarettgruppe zur Produktionsfirma „Kwartal 95“ aus, textete, spielte, organisierte, arbeitete Tag und Nacht. Mit 30 Jahren war seine „Humorfabrik“ ein Multimillionen-Dollar-Unternehmen. Die Gruppe wurde Kult, bekam Angebote vom Fernsehen. Der 40-jährige Selenskyj spielte als „Diener des Volkes“ genau den Präsidenten, der er sein wollte. Es ging steil bergauf und der Abgesang der Ukraine mit seinen fragwürdigen Präsidenten lieferte den Stoff. 

Vier Präsidenten erlebte Selenskyj. Leonid Krawtschuk, (1991) bescherte der Ukraine die Inflation. Leonid Kutschma (1994) wurde durch die Privatisierung zum Vater der Oligarchie und zum Oberhaupt der Kleptokratie. Der immer größer werdende Unmut des Volkes formierte sich 2004 als „Orange Revolution“ auf dem Madjan. Wiktor Juschtschenko (2005) konnte das Vertrauen, das ihm die „Orange Revolution“ schenkte nicht in politische Erfolge umsetzen. Unter seinem Nachfolger Wiktor Janukowytsch (2010) wurden Land und Menschen wie gehabt ausgebeutet. Er und sein Umfeld, seine sog. „Familie“, entwendeten 40 Milliarden Rubel aus der Staatskasse. Janukowsytsch mutierte zur Marionette Putins. Während der Besetzung der Ostgebiete rettete er sich ins Ausland. Daraufhin übernahm Oleksandr Turtschynow (Februar 2014) als kommissarischer Präsident die Führung und wurde ein halbes Jahr später vom Schokoladen-Oligarchen Petro Poroschenko (Juni 2014) abgelöst, der die Offenlegung der Einkünfte von Amtsträgern wieder abschaffte.

Selenskyj karikiert fleißig weiter als ukrainischer Geschichtslehrer , als ukrainischer Präsident und über seine Serie „Swatsy“, eine Satire aus der konträren Perspektive von zwei Großelternpaaren, das eine sehr konservativ vom Land, das andere urban aufgeschlossen, womit er genau die kritischen Alltagssorgen seiner Landsleute aufs Tapet brachte, was ihm immer mehr Popularität quer durch alle Altersgruppen und soziale Schichten einbrachte. 

Immer stärker werden Selenskyj die Untiefen der politischen Wirklichkeit in der Ukraine bewusst. Korrupte Praktiken machten die Oligarchen unendlich reich und die an Bodenschätzen und Agrarprodukten reiche Ukraine zum ärmsten Land Europas. „Die Regierung löst nicht unsere Probleme, sie ist unser Problem.“

Als Selenskyj unter Poroschenko Auftrittsverbot bekommt, wird er gefragt, ob er nicht selbst Präsident werden wolle. Von  der Spitze der Unterhaltungsindustrie wechselt er in das höchste politische Amt ohne jegliche politische Erfahrung, aber mit der Vision mit einer Partei junger, integrer Menschen die Ukraine in eine erfolgreiche Zukunft zu führen. 

Als er sich 2019 als Präsident aufstellen lässt und tatsächlich gewinnt, will er die Ukraine reformieren, insbesondere die Korruption bekämpfen und die russisch und ukrainisch sprechenden Menschen einen. 

Doch gegen die korrupten Verhältnisse kommt er kaum an. Sein Image leidet, als  auch noch seine außerrussischen Finanzen aufgedeckt werden und er immer autoritärer an der Grenze zur Verfassungswidrigkeit durchgreift, um das neue Oligarchengesetz durch das nicht minder korrupte Verfassungsgericht durchzubekommen. Die Oligarchen überhöhen die Preise in monopolisierten Branchen, hinterziehen Steuern und waschen kriminelle Gelder durch diffuse Unternehmensstrukturen in der Ostukraine. Um das in der Regel sehr geringe Gehalt aufzubessern, ist fast jeder Ukrainer in Korruptionen seitens der Oligarchen verwickelt.

Selenskyj kämpft rigide, entlässt kompromisslos auch Würdenträger, die viel für die Ukraine geleistet haben. Selenskyj, dem selbst Freiheit über alles geht, macht die Opposition mundtot. Die Witze über den Präsidenten werden „zahnloser“. Mit Kritik kann Selenskyj als Präsident schwer umgehen. Er ist zu keinen Kompromissen bereit. Das Ziel ist ihm wichtiger als die Methoden. Er macht die Opposition mundtot, entlässt viele Menschen und erkennt, dass die Liste der Reformen viel zu lange für eine Amtszeit ist. Schließlich durchkreuzt der russische Angriffskrieg alle anvisierten Reformen. Doch Selenskyj kämpft mit Charisma. Sein Auftritt am 2. Kriegstag, 25. Februar, im Kampfanzug wird legendär. „Ich wünsche allen einen schönen Abend. Der Präsident steht hier. Unsere Soldaten stehen hier, zusammen mit unserer gesamten Gesellschaft. Wir verteidigen unserer Unabhängigkeit, unsere Nation. Es lebe die Ukraine!“ Das Ziel, die Nation im Krieg zusammenzuhalten, hat er erreicht. Als russischsprachiger Muttersprachler aus der Ostukraine ist Selenskyj selbst das beste Beispiel, das Ost- und Westukraine eine Nation sind.

Steven Derix ist Journalist beim renommierten niederländischen Handelsblad NRC. Von 2014 bis 2020 war er Korrespondent für Russland, die Ukraine und Weißrussland. Neben Deutsch, Englisch und Französisch spricht er auch fließend Russisch.

Marina Shelkunova studierte Journalismus und war Rechercheurin und Koordinatorin des NRC und bei De Standaard. Sie engagiert sich in verschiedenen Organisationen, die sich für Menschenrechte und Demokratisierung in Russland einsetzen.

Beide recherchierten in der Ukraine und Russland und werteten Hunderte von Interviews und Nachrichten von Selenskyj aus. 

Steven Derix, Marina Shelkunova: „Selenskyj. Die ungewöhnliche Geschichte des ukrainischen Präsidenten“, Edel Verlagsgruppe GmbH, Hamburg, 2022