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„Sie sind nicht allein“, diese Einzeltäter. Der einsame Wolf ist ein zoon politikon, eingebettet in ein radikales Milieu. Niemand handelt ganz alleine, jeder Einzeltäter hat andere Personen im Kopf, die er beeindrucken will.
Fabian Lemmes´ Text „Propaganda der Tat“ beschreibt anhand der spektakulären Gewalttaten von 1873 bis 1914, wie Einzeltäter Unterstützung und Solidarität erfuhren. Die meisten Taten wurden anarchistisch bewertet. Heute würde man sie terroristisch benennen. Damals distanzierten sich die Anarchisten vom Aufruf „Propaganda der Tat“, aber die Einzeltäter waren durch ihre Unzufriedenheit mit den politischen, ökonomischen Zuständen deutlich vom Gedankengut der Anarchisten geprägt. Dass die Attentate wellenförmig aufflackerten, erklärt man heute mit der gleichzeitig sich massenhaft ausbreitenden Presseresonanz.
Anhand des Vorfalls in „Halle (Saale), 9. Oktober 2019″ erläutert Chris Schattka, wie Einzeltäter über Memos virtueller Imageboards, verschlüsselte Bilder mit Anspielungen auf Filme, Videos und Lieder über „hippes Untergrundwissen“ anonym kommunizierten. Rassistische, antisemitische und frauenfeindliche Inhalte sind an der Tagesordnung. Zunehmend finden sich in Memos Ankündigungen oder Aufzeichnungen rechtsextremistischer Gewalttaten. Die Attentäter handelten nicht nur aus ähnlichen Motiven, sondern erwähnten einander in Stellungnahmen. User sprechen von Brenton Tarrant als „Heiligen“, von seinen Bewunderen und Imitatoren als „Jünger“. So einer war Stephan B in Halle. Bei dieser Tat wurde deutlich, dass sich der Überraschungsvorteil des Täters gegenüber den Opfern durch unvorhergesehene Ereignisse ins Gegenteil verwandelte. Stephan B verlor die Kontrolle, agierte nicht, sondern reagierte nur noch und machte sich durch seine eigene Live-Stream-Inszenierung als „complete looser“ vor der virtuellen Community absolut lächerlich. Christ Schattka schlussfolgert aus diesem Tathergang, dass das Phänomen der sozialen Medien, virtuellen Gemeinschaften und Imageboards in die Forschung miteinbezogen werden müssen.
„Die Radikalisierung des Lernprozesses“ sieht Mattias Wahlström in der Logik von „Chatten, hetzen, töten“, die verschiedene Forschungsergebnisse bestätigen. Entscheidend für Einzeltäter ist die Aufmerksamkeit, die er bekommt, insbesondere durch die Resonanz der veränderten Medienlandschaft mit ihren Interaktivitätsmöglichkeiten und der zunehmenden Fragmentierung in zahllosen Online-Gegenöffentlichkeiten. Zu untersuchen gilt es rassistische Gruppierungen, die die Situation eines Landes durch rechtspopulistische Argumentationen manipulieren. Eine Untersuchung zeigt die Korrelation von Geflüchteten-Posts und Hassverbrechen gegen Geflüchtete, wenn sie auch wegen der geringen Fallzahlen statistisch nicht darstellbar sind. Durch den Echokammereffekt werden auf diversen rechtsradikalen Online-Foren abweichende Meinungen heruntergespielt und kollektiv lächerlich gemacht, fragwürdige Argumentationen zu Fakten stilisiert. Solidarität, Fanatismus für eine Sache verstärken die affektive Dynamik in diesen Online-Gruppen mit Beurteilungen durch Likes, Emojis und Kommentare, wie Analysen der schwedischen Facebook-Seite „Schweden ist voll“ belegt. Online-Foren motivieren zu Taten, helfen bei der Umsetzung und Legitimation. Sie bieten letztendlich verbrecherische Lernprozesse an, die durch Reaktionen von Gleichgesinnten und durch Nachahmungseffekte differenziell verstärken.
Frauen sind zwar als Einzeltäterinnen selten, aber Rechtsextremismus gibt es auch „Unter Wölfinnen“, was Kathleen M. Blee neben Beate Zschäpe v. a. über amerikanische Beispiele belegt. Ihre Radikalisierung erfolgte meist durch „einschneidende Ereignisse, die ihr Leben veränderten“ und zwar in einer Art Bekehrungsgeschichte durch radikale Kontakte.
Leea Malkki hinterfragt von 1999 bis 2019 an 56 Schulattentaten „Amok, private oder politische Gewalt?“ und stellt fest, dass Einzeltäter selten rein isolierte Psychoten sind, sondern oft aus gesellschaftspolitischer Unzufriedenheit handeln, via Internet vom Columbine-Attentat und virtuellen Subkulturen inspiriert.
Über verschiedene Radikalisierungsszenarien beweist Stefan Malthaner, dass „Einzeltäterschaft, relational betrachtet“ werden muss, da im Umfeld über zerstörte Karrieren, Randfigurenpositionierung und fanatische Netzwerke on- und offline immer soziale Kontakte beeinflussend wirken.
Den Abschluss bildet Thomas Hobels forschungsprogrammatische Skizze „Alleinhandeln“. Es plädiert dafür den Blick zu schärfen, wie sich solitäres Handeln und soziale Interaktionen zu einem gewaltsamen Alleinhandeln verknüpfen und sich dabei Handlungslinien herauskristallisieren.
Mittelweg 36 „Von einsamen Wölfen und ihren Rudeln. Zum sozialen Phänomen des Einzeltäters“, 29. Jahrgang Heft 4- 5, Hamburg, 166 S.