Michel Houellebecq  „Vernichten“

Buchkritik Houellebecqs "Vernichten" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Dumont Verlag 2022

Nicht Bruno Juge, der durch seine Expertise und Populärität den Wahlkampf für den mittelmäßigen Strohmannpräsidenten positiv beeinflussen soll, sondern sein Vertrauter und Terminkoordinator Paul Raison kristallisiert sich als Protagonist und Alter Ego Houellebecqs heraus. 600 Seiten lang kreist sein Roman um die große Frage, wie die digital-technologische Entwicklung Politik und Gesellschaft überrundet. 

Bruno ist weder ein Zyniker noch ein Dummkopf, sondern denkt und handelt rational wirtschaftlich und bürgerlich. Er lebt getrennt von seiner Frau, „im beziehungslosen Nichts“ nur für seine Arbeit und durchschaut die wahren Hintergründe des Wahlkampfs. Der schwache Präsidentenkandidat, nur für die Insignien der Macht interessiert, ist bloße Marionette, damit bei der nächsten Wahl wieder der alte Präsident mit Gewinnchancen antreten kann.

Paul ist ebenso Rationalist. Dem politischen Chaos, das er hinter den Kulissen und in seinen Alpträumen erlebt, steht er sehr kritisch gegenüber und ist davon überzeugt, dass das von den Menschen „geschaffene System in einem gewaltigen Kollaps zusammenbrechen wird“. 

Sein Freund Martin-Renaud vom Geheimdienst ermittelt gegen Internet-Terroristen, ohne Spuren zu finden. Die Lage eskaliert kurz vor der Wahl, als 500 afrikanische Flüchtige eines torpedierten Schiffs im Mittelmeer ertrinken. Die menschliche Tragik wird vom PR-Coup auf globaler Ebene und bringt der Regierung den anvisierten Sieg und degradiert das Wort „Würde“ zur Floskel.

Gleichzeitig fokussiert Houellebecq durch die Erkrankung von Pauls Vater und die Einbindung von dessen Geschwistern immer mehr auf die schwierigen familiären Beziehungen und das miserable französische Pflegesystem, so dass sich neben der gesellschaftspolitischen Apokalypse zunehmend die Auseinandersetzung mit dem Älterwerden in den Vordergrund schiebt. Die Paare trennen sich. Bruno und Pauls Bruder finden neue, wesentlich jüngere Frauen aus anderen Kulturkreisen, mit denen sie glücklich sind. Paul entflammt nach zehn Jahren Distanz neu für seine eigene Frau, die ihm sexuell bis in die letzten Stunden seiner schweren Krebskrankheit Lust bereitet. Statt Schmerzen erlebt er Lust, eine rosarote Verkitschung, die kaum noch zu überbieten ist. 

Interessant sind wie immer Pauls verstreut eingeschobene gesellschaftliche Einschätzungen  als Alter Ego Houellebecqs. Das Bevölkerungswachstum dient allein dem angestrebten Konsum kapitalistischer Wachstumsziele. Frankreich als Nation, „too big to fall“, kann sich darum alles erlauben, ohne sanktioniert zu werden und das Schlimmste ist, dass die Angriffsmöglichkeiten sich viel schneller als die Verteidigungsstrategien entwickeln. „Gewalt ist der Motor der Geschichte“, Roboterisierung und Digitalisierung konterkarieren politisches Handeln.

Summa summarum geht es mit der Würde des Menschen in jeder Beziehung bergab. Mit Alkohol lässt sich das alles für Paul alles ganz gut ertragen, was eben eines der Hauptprobleme des Alkohols ist, wie er selbst zugibt. Neu ist, dass Paul im Alter über Sex eine ungewohnte Lebensqualität erhält, wobei Houellebecq eben doch wieder, wenn auch dezenter als bislang, bei seinen beiden wichtigsten Themen ist. Lohnt sich das zu lesen?

Buchkritik Houellebecqs "Vernichten" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Philippe Matsas/Flammarion

Michel Houellebecq, 1958 geboren, gehört zu den wichtigsten Autoren der Gegenwart. Seine Bücher werden in über vierzig Ländern veröffentlicht. Für den Roman ›Karte und Gebiet‹ (2011) erhielt er den Prix Goncourt. Sein Roman ›Unterwerfung‹ (2015) stand wochenlang auf den Bestsellerlisten und wurde mit großem Erfolg für die Theaterbühne adaptiert und verfilmt. Zuletzt erschien der Essayband ›Ein bisschen schlechter‹ (2020).

Michel Houellebecq  „Vernichten“, Dumont Verlag, Köln 2022, 624 S.