©Kanon Verlag, 2021
„Der Termin“ beim Arzt wird zum grandiosen inneren Monolog, zu einem geschichtshistorischen und zeitgenössischen Rundumschlag, indem Katharina Volckmer Deutschlands braune Vergangenheit mit der Genderproblematik verwebt. Peu à peu kristallisieren sich diese beiden Erzählstränge aus einem zunächst sehr verworrenen Assoziationsknäuel heraus. Nie wollte das erzählerische Ich eine Mädchen sein, sondern einer von den blonden, gut aussehenden Jungs von einst. Dieses Bekenntnis leuchtet als Leitmotiv immer wieder auf und mündet in die große Metapher, ob sich die deutsche Frau von eigenen Lügen befreien kann, wenn man ihr einen jüdischen Penis gibt?
Katharina Volckmers Kunstfigur ist bewusst psychotisch grotesk. Diese Frau erlebt sich als übertrieben hässlich, als das, was Dr. Frankenstein übrig gelassen hat. Sie fühlt sich im Schatten ihres verstorbenen Bruders, den sie nie kennengelernt hat und in ihrer Phantasie das verkörpert, was sie gerne gewesen wäre, ein blonder athletischer Jüngling. Gleichzeitig fühlt sie die Last des Holocausts auf ihren Schultern, bei dem der eigene Großvater als Bahnhofswärter den deportierten Juden auf ihrer letzten Fahrt die Gleise stellte. Sie will sühnen. Aber auch mit einem jüdischen Schwanz kann sie die Vergangenheit nicht verändern.
In einem Gedankenstrom von 124 Seiten philosophiert diese Frau über ihre eigene ganz spezielle Existenz als Beispiel der allgemein gesellschaftlichen mit Seitenhieben auf Gott und die Religion. „Es ist unmöglich, je selbst zu sein“, schlussfolgert sie, vielmehr ist man das „Produkt aller Stimmen, die man gehört und aller Farben, die man gesehen.“ Und überhaupt, wie soll Gott, ein Mann, der nicht gebärfähig ist der Schöpfer allen Lebens sein?
Katharina Volckmer rüttelt an den Tabus der Gesellschaft, übersteigert sie ins Groteske. Ihr erzählerisches Ich hat in seiner Suche nach dem Sinn der Existenz durchaus Beckettsche Qualität, aufgemischt mit sexualisierten Bildern unserer Zeit und poetischen Wendungen dazwischen. Dieses Ich fühlt sich unter den Menschen fremd. Nur zu ganz wenigen, zu den Gestrandeten hat diese Noch-Frau Zugang, das heißt das Gefühl mit „echten Menschen“ zu sprechen. Dazu gehört ihr Geliebter K, ein Künstler, verheiratet. In ihm findet sie einen Seelenverwandten, mit dem sie ihre sexuellen Phantasien rund um das Thema Schwanz ausleben kann. „In beider Adern fließt dieselbe Farbe“.
Katharina Volckmers Sprache überrascht immer wieder, nicht Dr. Seligmann, der in die Rolle des stummen Zuhörers verwiesen wird, während er ihr hilft ein Mann zu werden, sondern den Leser, den sie mit immer neuen sexuellen Metaphern provoziert und konsterniert, und wenn nur etwas Alltägliches wie die Sitzhaltung ist. Frauen verstecken ihr Geschlecht durch verschränkte Beine. Männer signalisieren dagegen breitbeinig ihre Macht. „Der „Schwanz ist wie ein Schwert, worauf man stolz ist“.
Der Roman bleibt reines Gedankenspiel, l’ art pour l’art. Er offeriert eine neue Tonart des Schreibens, die man auch als Ausdruck unseres sexualisierten Mainstreams nach dem Motto je grotesker, desto mehr Aufmerksamkeit durchaus kritisch hinterfragen kann.
©Katharina Selects
Katharina Volckmer (*1987, Deutschland) lebt in London und arbeitet für eine Literaturagentur. „Der Termin“ ist ihr erster Roman.
Katharina Volckmer „Der Termin“, Kanon Verlag, Berlin 2021, 124 S.