Kaspar Colling Nielsen „Der europäische Frühling“

Buchkritik Nielsen "Der europäische Frühling" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Heyne Verlag, 2018

Der Roman beginnt mit „Viel später“, eines der acht leitmotivischen Zwischenkapitel. Ein Vogel und ein Hund diskutieren und philosophieren über das ungerechte Verhältnis zwischen Tier und Mensch. Unter anderem soll genau diese Situation durch technologische Fortschritte verändert werden. Noch ist es nicht so weit. Kaspar Colling Nielsen verortet die Hauptfigur Nastig in einem Kopenhagener Drogenviertel. Durch eine spontane Ausstellung in seinem Keller werden die Medien auf ihn aufmerksam und er rutscht mehr oder weniger zufällig in die Rolle des erfolgreichen Galeristen Stig. Jedes Kapitel expositioniert eine neue Person mit einem problematischen Hintergrund. Wie in einem Puzzle fügen sich die unterschiedlichsten Milieus zu einem vielschichtigen Gemälde der Gegenwart. Stigs Frau, burn-out, folgt einem Forschungsauftrag nach Lolland. Tochter Emma, magersüchtig, selbstmordgefährdet, will in Mosambik ihre eigenen Lebenserfahrungen machen. Christian, einem wenig begabten Künstler, gelingen durch die sexuellen Obsessionen mit einer geistig behinderten Lolita plötzlich großartige Bilder. Nielsens nüchtern distanzierter Blick verhindert das Abrutschen ins Pornografische, zumal seine Figuren die Verantwortung für ihr Tun übernehmen und ständig durch die Augen anderer kritisch hinterfragt und miteinander, selbst mit den Tieren, immer dichter vernetzt werden, wobei die philosophisch hinterfragende Fabelstruktur, konsequent sehr einfach formuliert, beibehalten wird und sich beide Erzählebenen Richtung Science Fiction bewegen.

Während in Mosambik Chaos und Terror herrschen, verwandelt sich Lolland in ein Vorzeigeprojekt. Arbeitsdrohnen erleichtern das Leben und beschützen sogar Tiere. Selbstversorgend ist die Lebensmittelversorgung von hoher biologischer Qualität, das Leben relativ preiswert, wenn man die horrenden Beiträge für die Aufnahme  und  den Wohnraum bezahlt hat. Nicht alle Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz werden ausgereizt, die Entwicklung eines Mensch-Tier-Hybrid-Wesens wegen zu großer Unwägbarkeiten gestoppt. Vernunft bestimmt das Leben in Lolland, inzwischen ein ökologisch-technologisches Paradies. Selbst in Mosambik verbessern sich die Verhältnisse, so dass die Flüchtlinge menschenwürdig leben können.

„Sehr viel später“ erfolgt in Lolland  die vollkommene Synthese von Mensch und Tier. Durch Bewusstseinsübertragung können Menschen für eine gewisse Zeit wie ein Tier leben und ihr Leben verlängern. 

Das Leben mit Gespür für die richtigen technologischen Entwicklungen in Kombination im richtigen Körper zu leben ist Kaspar Colling Nielsens Botschaft. Nutznießer ist allerdings nur eine kleine Elite. Nicht nur in diesem Punkt wirkt „Der europäische Frühling“ im Bezug auf die menschliche Zukunft schon sehr real. 

Kaspar Colling Nielsen „Der europäische Frühling“, Heyne Verlag, München 2018, 396 S.