©S. Fischer Verlag, 2024
Immer stärker bestimmen Minderheiten den Ton unserer Gesellschaft. Laut, provokativ, selbstbewusst, auch wütend stellen sie ihre Forderungen und spalten ganz bewusst. Wie kann man aus…
der radikalen woken Wutpropaganda wieder herauskommen? Seit über zehn Jahren engagiert sich Jagoda Marinić für eine diverse Gesellschaft. In ihrem Buch „Sanfte Radikalität“ macht sie Vorschläge, statt auf den sozialen Medien die Empörungsspirale voranzutreiben man sich auf die Umsetzung von Ideen konzentriert. Die Basis dafür bildet für sie das „Sehen“. Aus welcher Perspektive betrachtet man ein Problem, aus dem Blickwinkel der Täter oder der Opfer? Beides ist wichtig, um Identitätsverhärtungen zu vermeiden und Lösungen für ein produktives Miteinander zu entwickeln.
Viele diverse Erfahrungen hat Marinić durch ihre multikulturelle Abstammung. Bei ihren Lesungen war man beispielsweise nicht an ihrem Roman „Buch des Lebens“ interessiert, sondern nur an ihrer Abstammungsexotik und Expertise für Einwanderung. Regelmäßig wurde sie von der deutschen Mehrheitsgesellschaft als Fremde behandelt, wodurch sie lernte die Fragen nach ihrer Identität zu analysieren. Wer initiiert das „Othering“, die Isolierung als Fremde abgestempelt zu werden? Marinić erkannte, dass es immer weniger um das bessere Argument geht, sondern um die Fähigkeit, bei gleichwertigen guten Argumenten einen Dialog führen zu können, wenn Bürger trotz derselben Fakten zu ganz anderen Schlüssen kommen. Die wenigsten Menschen können diesen Diskurs aushalten, wodurch es zu Verhärtungen kommt. Das Gegenmittel sieht Marinić in der von ihr definierten „sanften Radikalität“.
Dafür rollt sie im längsten Kapitel „Streit“ die deutsche Integrationspolitik seit den ersten Gastarbeitern in den 1960er Jahren auf. Ihnen wurden jegliche Rechte abgesprochen, wobei sich Marinić u.a. auf Wallraffs investigatives Buch „ganz unten“ bezieht. Es gab weder Minderheitenvertretungen noch wie in den USA ein Empowerment der Zugewanderten. Fremde blieben fremd, ausgegrenzt, hatten sich dem deutschen Leitbild zu unterwerfen, ohne Akzeptanz der eigenen Identität oder der Toleranz für zwei Identitäten.
Inzwischen hat sich die Situation zugespitzt und verändert. Es wurde ein Einbürgerungsrecht etabliert, woraus sich eskalierende Identitätsdebatten ergaben. Ganz entschieden lehnt Marinić radikale Methoden ab, um Meinungen auszuschalten, egal von welcher Seite, genauso banale Argumentationen und Begriffsschablonen, die ausgrenzen statt der Einigung dienen. Vielmehr muss es in einer Demokratie immer Ziel sein andere argumentativ zu überzeugen. Doch dieses Demokratieverständnis wird immer stärker gefährdet. Wenn Meinungsmache nur noch über algorithmisch gesteuerte Informationen mittels sozialer Netzwerke verbreitet wird, denkt der Leser nur mehr in der Blase von Gleichgesinnten, die sich auf kein anderes Argument mehr einlässt. In ihren Projekten achtet Marinić deshalb sehr genau darauf gute Argumente für neue Lösungen zu finden, im Gegensatz zu algorithmisch erstellten einseitig manipulierende Meinungsflut, die nur die Polarisierung vorantreibt. Statt für ein rigides „Entweder-oder“ plädiert sie für ein „Sowohl-als auch“, für Offenheit, Zuwendung und Lernlust, für eine vielfältige Stadtgesellschaft. Sie führt nicht Defizite vor Augen, sondern fokussiert auf das bestehende Positive. Bei Marinić ist, wie man so schön sagt, das Glas immer halbvoll. Das Unwort Antidiskriminierung ersetzt sie durch „Pro-Vielfalt“, immer wieder belegt durch ihre Erfahrungen mit dem von ihr gegründeten Interkulturellen Zentrum in Heidelberg.
Marinićs Leistung ist der Blick auf das Positive, die Fähigkeit nicht nachtragend zu sein. Sie lenkt den Blick weg von sich selbst, der oft nur das Negative verstärkt, hin zu einer Selbstbewusstheit, die Widersprüche erkennt, und zu einem Selbstbewusstsein führt, dass man auch mitten im Chaos noch Ich sagen und den anderen akzeptieren kann. Nicht die Probleme sollen im Mittelpunkt stehen, sondern „Lösungslust“ und Können.
Jadoga Marinić, (*1977) ist Schriftstellerin, Publizistin und Podcasterin. Sie schrieb für den „stern“ als Kolumnistin und für die „New York Times“. Ihr „Buch des Lebens“ wurde für den Grimme-Preis nominiert. 2022 wurde sie als Kulturjournalistin des Jahres ausgezeichnet. Zehn Jahre lan g baute sie als Kulturmanagerin das Interkulturelle Zentrum in Heidelberg auf und kuratiert das feeLit, das Internationale Kulturfestival
Jagoda Marinić „Sanfte Radikalität – Zwischen Hoffnung und Wandel“, S. Fischer Verlag 2024, S. 160