Gottfried Schenk „West-Berlin. Kiez & Subkultur Hood & Subculture 1975 – 1990 

Buchrezension "West-Berlin" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Braus Verlag

Gottfried Schenk, in Tirol geboren und aufgewachsen, kam 1970 nach der Matura und dem Heeresdienst nach Berlin. Die Stadt wurde ihm wie vielen anderen auch zum Inbegriff von Freiheit. Er studierte Elektrotechnik und begann von einer Zille-Ausstellung inspiriert zu fotografieren. Dessen Blick auf das Berliner „Milljöh“, das Alltägliche, auf den Verfall der Gebäude und die sozialen Probleme beeinflusste entscheidend seine Art zu fotografieren. In seinen Bildern rückt er die soziale Rücksichtslosigkeit beim Abriss der alten Häuser in seinem Kiez rund um den Klausenerplatz in den Mittelpunkt. Die Kamera wird zum politischen Appell gegen den Immobilienkapitalismus. Markige Sprüche auf Hausmauern dokumentieren den Geist jener Zeit. „Nicht Amboss, sondern Hammer sein!“ „Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt.“ 

Schenk führt mit blitzschnellem Festhalten magischer Augenblicke im Straßenbild die Arbeiterfotografie der 1930er Jahre weiter, um Verfall und die Veränderungen zwischen 1975 und 1990 zu dokumentieren, textlich unterstützt durch persönliche Erlebnisse von ihm selbst und Zeitgenossen. 

Er fotografierte im Kiez das, was die Schatten auf den sanierten Häusern assoziieren lassen, die Vergangenheit, lenkt den Blick auf verwitterte Giebel, patinierte Fassaden, verblichene Firmenschilder, Durchblicke bis zum dritten Hinterhof, Frontalaufnahmen von kleinen Läden. Doch den Kiez an sich machen die Menschen aus, die Alteingesessenen und Zugezogenen, die aus maroden Wohnungen hippiemäßige Wohlfühloasen zaubern, beobachten, was auf der Straße passiert, miteinander reden und feiern oder auf dem Trottoir ihren Rausch ausschlafen, Szenetypen und Punkfrauen, Kinder beim Spielen und Raufen und Mieterinitiativen. Auf grauen Abrisshäusern prangen orangerot die Plakate der Neuen Heimat, Aktivisten engagieren sich und demonstrieren dagegen. 

Die „Subkulturen“ greifen über den Kiez hinaus, zeigen die West-Berliner zwischen „Feiern, Konzerten, Kunst“ und politischer Agitation, wobei die Grenzen sich verwischen. Zur Ikone des Widerstands wurde das „KuKuCK“, ein von Stadtanarchos gezeichnetes dreiteiliges Brandmauerbild, in dem sich Wunschträume in Seifenblasen wandeln und als Kleinfamilie zerplatzen. Streetfotos von Fahrraddemonstrationen, Umweltfestivals, Straßen- und Hoffesten, multikulturelle Volkstanzgruppen spiegeln eine Berliner Kollektivität, in der den Hausbesetzungen zumindest fotografisch die größte Bedeutung zukommt. 

Unerwartet nostalgisch endet „West-Berlin. Kiez und Subkultur 1975 – 1990“ im kaiserlichen Umfeld von Schloss Charlottenburg. Doch Schenks Fotografien setzen neue Akzente. In „Kiez & Preußens Gloria“ haben die Menschen längst das Terrain erobert. Mit Eiscreme am Teufelssee oder am Strand vom Halensee fühlen sich die jungen Leute zumindest 1975 bis 1990 wohler. Nicht nur Berlin-Fans eröffnet dieser Bildband interessante Fassetten. 

Buchrezension "West-Berlin" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Braus Verlag

Gottfried Schenk „West-Berlin. Kiez & Subkultur. Hood & Subculture 1975 – 1990, Braus Verlag Berlin 2021, 240 Seiten