©Norman Parkinson, Iconic Images
Dass Ferdinand von Schirach ein Meister abstruser Geschichten und polarisierender Meinungen sein kann, ist bekannt. In seinem neuen Buch „Der stille Freund“ kombiniert er…
14 Geschichten, philosophisch eingebunden von existenzieller Unsicherheit, wobei sozialer Auf- und Abstieg aufeinanderknallen, Zufälle das Leben bestimmen, das Schutzbedürfnis des Menschen in den Mittelpunkt rückt und die unterschiedlichen Codes der Upper Class und High Society eine große Rolle spielen.
In Berlin, Kapstadt, Rom, Wien und an der Côte d´Azur trifft Schirach Freunde oder Bekannte, die ihm ihre Geschichten erzählen, die er wiederum in der Ich-Form mit anwaltlicher Genauigkeit, präzise formuliert in ihrer Tiefgründigkeit offenbart, wobei die existentielle Verachtung wie in „Spiegelstrafe“ oder „Cicciata“, (Schlächterei) derart abstruse Formen annimmt, dass die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen.
Über architektonische und historische Details baut Schirach atmosphärische Szenarien auf. Er erzählt aus der Perspektive der Upper Class nach dem Zweiten Weltkrieg und überrascht den Leser mit ganz extremen dramatischen Zuspitzungen.
Das Ergebnis ist eine abwechslungsreiche Geschichtensammlung, die man querbeet lesen kann, die aber im Gegensatz zu den leichten Impressionen wie „Kaffee und Zigaretten“ (2019) philosophisch eingebettet ist. Diese existentielle Grundierung findet man aber nur, wenn man bei der ersten titelgebenden Geschichte beginnt. Mit dem „stillen Freund“ zielt Schirach nicht auf einen schweigenden Menschen, vielmehr auf magische Momente, in denen der Mensch seine wahre Authentizität erlebt.
Den Begriff „der stille Freund“ hat er von seinem Freund Massimo, mit dem er das Jesuiteninternat St. Blasien besuchte. Durch die leidenschaftliche Auseinandersetzung mit der Philosophie negiert Massimo die Fragen nach dem Sinn des Lebens, die sich in der Menschheitsgeschichte endlos wiederholen. Entscheidend ist nicht das Handeln, sondern das Erleben von Momenten, in denen man sich lebendig und authentisch fühlt.
In diesem Sinne verwandelt Schirach, allerdings nicht durchgängig, Geschichten, die ihm Freunde und Bekannte erzählen, in existenzielle Metaphern zwischen Unsicherheit, Gewalt, Schutz und Tod. Cynthia, die Heldin in „Spiegelstrafe“, erlebt „stille Freunde“ über die schützende Hand ihres zweiten Mannes, der die Gewalttätigkeit ihres ersten Mannes ihr gegenüber als Spiegelung rächt. Darauf folgen Statements über „Die Sache mit dem Tod“ von Goethe bis Astrid Lindgren. Am Beispiel übergriffigen Verhaltens eines Dirigenten hinterfragt Schirach die unterschiedlichen Auswirkungen auf die Betroffenen und führt die Debatte, um dann über „Wirklichkeit und Wahrheit“ anhand von Terrorakten und deren Manipulation durch die sozialen Medien zu räsonieren.
Dieses vertiefende Konzept weicht dann allerdings einer bloßen Aneinanderreihung von spannend erzählten Kurzbiografien über Menschen, die sich gesellschaftlicher Normierungen oder nationalsozialistischem Druck entziehen und selbst angesichts des Todes den Mut zu einem für sie authentischen Leben entwickeln.
Final knüpft Schirach durch Vermeers Gelb in „Eine Ansicht von Delft“ an die Magie „stiller Freunde“ wieder an. Durch diesen Begriff gewinnt die Geschichtensammlung weit über den spannenden Unterhaltungswert hinaus eine neue Perspektive auf die wahre Authentizität des Lebens.
Ferdinand von Schirach (*1964 in München) lebt in Berlin. Er studierte Jura und machte durch eine Strafanzeige gegen den Bundesnachrichtendienst und im Berliner Mauerschützenprozess auf sich aufmerksam. Mit 45 Jahren veröffentlichte er seine ersten Kurzgeschichten auf der Basis seiner anwaltlichen Erfahrungen. Seine Bücher standen monatelang auf den Bestsellerlisten, erschienen in über 40 Ländern und wurden mehrfach verfilmt. Die Theaterstücke „Terror“ und „Gott“ zählen zu den erfolgreichsten Dramen unserer Zeit.
Ferdinand von Schirach „Der stille Freund“, Luchterhand Verlag, München 2025, 172 S., ist ab 27. August in deutschen Buchhandlungen erhältlich. Eine Lesetour mit Ferdinand von Schirach ist ab Herbst 2026 geplant.