©Insel Verlag, 2022
In keiner anderen Straße Berlins spiegelt sich die preußische Geschichte so stark wie „Unter den Linien“. Der ursprüngliche 1,5 Kilometer lange Reitweg vom Schloss zum Tiergarten wurde 1647 befestigt und mit Linden bepflanzt. „Den Linden“ entlang, wie die Berliner sagen, entwickelte sich eine einzigartige bauliche Erfolgsgeschichte, die die Glanzzeiten von der Aufklärung über Klassizismus, Romantik, Biedermeier bis in die beginnende Moderne dokumentiert, gleichzeitig die Entwicklung vom Kaisertum zum Bürgertum und zur Demokratie. Der Lindenstil wurde ein Markenzeichen, Berlin eine kulturelle Metropole neben Paris und Wien.
Erwin Seitz weiß die komplexe Historie überaus unterhaltsam aufs Papier zu bringen. Über zahlreiche Zitate lässt er die Herrscher, Bauherren und Künstler selbst zu Wort kommen, kontrastiert die unterschiedlichen Meinungen und überrascht durch sein detailliertes Hintergrundwissen. Sein Herz schlägt für das klassische Ideal edler Schlichtheit, sichtbar in den horizontalen Dachlinien und in den antiken Säulenarkaden. Sehr treffend illustriert führt Erwin Seitz immer wieder die Weiträumigkeit und perspektivische Vielfalt des gesamten Gebäudeensembles vor Augen, gleichzeitig das sich entwickelnde Promenadenwesen mit seinen Flaneuren, kulturellen Salons und dem eleganten Lebensstil als Ausdruck der Weltoffenheit.
Im letzten Kapitel bezieht Erwin Seitz das heutige Berlin mit ein. In modernen Gebäuden wie der James-Simon-Galerie sieht er die antiken Vorbilder durch edle Materialien und klare architektonische Strukturen verwirklicht. Für ihn ist gerade durch den Wiederaufbau des Schlosses das Gesamtensemble und damit die weitläufige Mitte Berlins als Ort der Weltoffenheit und Begegnung erhalten geblieben. Auch wenn dem Schloss das Wichtigste, der höfische Glanz als Botschaft verfeinerten Lebensstils fehlt, bleibt sein Blick auf das „neue“ Schloss sehr positiv. Mit “Es bleiben Träume“, umschreibt er elegant angesichts des modernen Mainstreams den Verlust auf lukullische Qualität und Noblesse. Er hofft diesbezüglich noch auf Verbesserungen. Träumen darf man ja, könnte man hinzusetzen. Die Sanierung der Komischen Oper in den nächsten Jahren zielt in diese Richtung. Berlin-Liebhabern mit Interesse für Kulturgeschichte und Architektur ist „Unter den Linden – Biografie eines Boulevards“ auf jeden Fall sehr zu empfehlen.
Erwin Seitz (*1958) lernte Metzger und Koch. Danach studierte er Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie in Berlin und Oxford. Er lebt als Gastronomiekritiker, freier Journalist und Autor in Berlin. An der Dualen Hochschule Heilbronn lehrt er als Dozent im Studiengang Food Management.
Erwin Seitz „Unter den Linden – Biografie eines Boulevards“, Insel Verlag, Berlin 2022, 237 S.