"Kultur macht glücklich"


Carolin Emcke „Für den Zweifel“ 

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Carolin Emcke „Für den Zweifel“ 

©Kampa Verlag, 2022

„Ich verstehe  das Schreiben eindeutig als Widerstand gegen die Gewalt“. Carolin Emcke weiß, wovon sie schreibt. Persönlich und beruflich erlebte Erfahrungen geben ihr die Energie für ihre Nachforschungen, bei denen sie die Kultur „Für den Zweifel“ pflegt. Was Carolin Emcke in ihrem neuen, sehr autobiografisch gefärbten Buch überdenkt, kann man 100-prozentig unterstreichen, weil sich ihre Forderungen aus klaren Argumentationen ergeben.

Auf ihren Reisen in Krisengebiete motiviert durch ihre „Sehnsucht nach Welthaltigkeit“ war sie ständig mit Gewalt und Entmenschlichung konfrontiert, mit dem inneren Konflikt in bestimmten Situationen die Rolle der Journalistin mit dem Menschsein zu tauschen und dabei die eigenen Grenzen kennenzulernen. Sie erlebte eine Parallelwelt zu ihrem Leben im Wohlstand, Bilder, die immer in ihrem Bewusstsein verankert sein werden. Die Frage, warum Menschen andere Menschen enthumanisieren, treibt sie an zum „Schreiben trotz alledem“. Dabei fokussiert Carolin Emcke nicht auf die großen Gräueltaten, sondern auf die Details mit Störelementen und Widerhaken, in denen sich letztendlich die Komplexität von Gewalt spiegelt. Sie fordert, dass die Schwellen der Missachtung niedrig gehalten werden und man sich für die Klärung der Schuldfrage Zeit nimmt.

In „Herkünfte und Traditionslinien“ beschreibt Carolin Emcke, wie sie schon in der Schule gleichzeitig vom logischen Denken und von den literarischen Formen in der Philosophie fasziniert war. Sie folgte ihrer inneren Stimme und studierte Philosophie. Parallel lernte sie durch Praktika bei Zeitungen die Journalistik kennen. Beim Bücherschreiben fand sie die Synthese von Theorie und Praxis, die Anschauung und Zeugenschaft anderer Lebenswelten und Perspektiven. Ihre literarischen Traditionslinien sieht Carolin Emcke bei den Dichtern und Autoren, die die Tiefe von Verstörungen ausleuchten. KünstlerInnen in anderen Metiers wurden  für sie ein inspirierendes „kapillarisches intellektuelles Feld“, wenn sie ebenfalls ernsthaft über die Welt und das soziale Miteinander nachdenken. Traditionslinien, der Kulturkanon, müssen über „Re-Lektüre“ und „Re-Evaluation“ auf Ressentiments und Rassismus hin überprüft werden, gerade vor dem Hintergrund, dass der eigene und europäische Status auf Ausbeutung beruht. Als „öffentliche Intellektuelle“ sieht es Carolin Emcke als ihre Aufgabe immer wieder die Divergenzen im Menschsein aufzuspüren und zu thematisieren. 

Die klassische Musik ist ihre Passion. Durch Zuhören, Hingabe und Konzentration lernt man das Verstehen. In „Musik und Begehren“ vergleicht  sie die Demokratie mit Bachs „Kunst der Fuge.“ Es gibt ein bestimmtes Gefüge, aber je nachdem, wer es wie realisiert, klingt es anders.

In der Zeit der Pandemie wurde Carolin Emcke durch die Restriktionen viel „Über Krankheit und Körper“ bewusst. Die Hygieneregeln, aber auch die zunehmende Digitalisierung nahmen dem Sozialen die Körperlichkeit, das Lustvolle und Spontane. Andererseits machte die Pandemie endlich bewusst, dass viele Lebensweisen bezüglich Konsum, Hypermobilität und Tourismus überdacht werden müssen und wer wie durch Vertuschung von Sachverhalten und Angstmache das soziale Miteinander vergiftet. 

„Gespenstische Diskurssubversionen“ sieht Carolin Emcke zurecht bei der „Distribution des Wissens“ durch die sozialen Netzwerke. Notorisches Lügen, Aufruf zur Gewalt, Rassismus, Legitimierung von White Supremacy untergraben die Demokratie. Sie zu erhalten braucht es ein großes „Wir“, das sich gegen den Revisionismus stellt. „Irritierbar zu bleiben“, Neues wahrzunehmen, zu staunen, zu zweifeln, das ist etwas, was Carolin Emcke sich unbedingt bewahren möchte. Wie wahr! 

Buchrezension Carolin Emke "Für den Zweifel" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Kampa Verlag 2022

Carolin Emcke (*1967) studierte Philosophie in London, Frankfurt am Main und Harvard. 1998 promovierte sie über den Begriff „kollektive Identitäten“. Von 1998 bis 2013 bereiste sie weltweit Krisenregionen und berichtete darüber. Seit 2004 organisiert und moderiert sie die Diskussionsreihe „Streitraum“ an der Berliner Schaubühne. Für ihr Schaffen wurde sie vielfach ausgezeichnet, u. a. 2016 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Sie veröffentlichte „Von den Kriegen. Briefe an Freunde“ (2004), „Wie wir begehren“ (2012), „Weil es sagbar ist: Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit“ (2013), „Gegen den Hass“ (2016), „Ja heißt ja und…“(2019), „Journal: Tagebuch in Zeiten der Pandemie“ (2021)

Carolin Emcke „Für den Zweifel“, Kampa Verlag, Zürich 2022,  155 S.