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In konzentrischen Kreisen entwickelt Annalena Baerbock die Erneuerung Deutschlands und der Welt in vier großen Kapiteln. „Der Mensch steht im Mittelpunkt“, „Verändern, um es besser zu machen“, „Erneuerung braucht Halt“ und „Europäisch handeln“. Wenn man die 234 Seiten in einem größeren Schriftbild als üblich gelesen hat, ist man allerdings nicht viel schlauer als zuvor. Dass Handlungsbedarf ist, streitet niemand ab, aber überzeugende Konzepte der Realisierung bleibt Annalena Baerbock weitgehend schuldig. Ihre Ziele will sie darlegen. Von ihrer politischen Entwicklung und Erfahrung erfährt der Leser nichts, abgesehen von ein paar Treffen und Gesprächen.
Sympathisch und positiv, mit Weit- und Zuversicht zeichnet Annalena Baerbock ihr eigenes Porträt, geprägt von den Sprüchen der Oma, mit Blick auf die Solidarität der Bürger in einem effektiven, hilfsbereiten Staat.
Als ehemalige Leistungssportlerin bekennt sich Annalena Baerbock zu Disziplin und Einhaltung von Regeln. Mit drei- bis fünfmaligem Training pro Woche, erklärt sie selbstbewusst, wollte sie deutsche Meisterin im Trampolinspringen werden, wäre nicht kurz vor dem Wettbewerb ein Trümmerbruch dazwischengekommen.
Jetzt will sie Bundeskanzlerin werden und stolpert nach einem fulminanten Beginn über ihre eigenen zuweilen zu groß angelegten Ambitionen. Dazu gehört auch dieses Buch mit teilweise arg simplen Argumentationen des Sollens, Könnens und Müssens und irritierenden Vorschlägen.
„Es braucht ein übergeordnetes Ziel“, schreibt sie pathetisch im Vorwort, um die Wende in Deutschland einzuleiten und die zielt nicht als allererstes auf den Menschen, sondern auf „eine klimagerechte Welt“. Dann stellt sie den Menschen doch in den Mittelpunkt und zitiert aus George Orwells „Farm der Tiere“ „alle Menschen sind gleich, nur manche sind gleicher als andere“ mit der Schlussfolgerung einer Bildungspolitik mit der Grundschule als Königsweg, um die Chancen aller Kinder zu verbessern. Sie skizziert pädagogische Konzepte, die in manchen Bundesländern schon seit 2000 im Rahmen der Schulentwicklung diskutiert und realisiert wurden. „Die Ausnahme muss zur Regel werden“. Soll das die konzeptionelle Logik einer künftigen Kanzlerkandidatin sein? Aladin El-Mafaalani, Soziologe und Bildungsforscher mit syrischen Wurzeln, scheint sie zu beeindrucken. Als Vision sollen Kinder nachmittags „Deutsch als Fremdsprache üben“. Die Bedeutung der Kitas und Familien wird mit keinem Satz erwähnt.
Richtig ist, dass eine Kanzlerin noch lange nicht „die Hälfte der Macht“ im Genderkampf darstellt. Noch immer sind Repräsentation und Bezahlung der Frauen weit hinter dem, was Männer erzielen. Eine bloße Gender-Gleichstellung genügt Annalena Baerbock nicht. Nur 8 % der Abgeordneten haben multikulturelle Wurzeln. Das soll anders werden. Die angedachte Quote der Grünen lässt sie allerdings im Buch außer Acht, das wirkt wie Taktik.
Veränderungen sollen natürlich Verbesserungen bringen, aber die erwähnten Beispiele wirken in der Fläche genauso wenig überzeugend, wir ihr Vorschlag „um einen Wettbewerb um die besten Lösungen in Gang zu bringen, werden die besten Projekte in einem Ausschreibungsverfahren ermittelt.“
Die Erneuerung braucht natürlich finanziellen Halt. 50 Milliarden für die Erforschung erneuerbarer Energien und Digitalisierung, 140 Milliarden für die Infrastruktur können selbst durch stärkere Besteuerung der Vermögenden nicht erzielt werden. Deshalb will sie die Schuldenbremse erweitern, zumal die Bürger hohe private Ersparnisse hätten und die Inflation niedrig sei, letzteres ein Faktum, das selbst Experten durchaus bezweifeln.
In Sachen Migrationspolitik will Annalena Baerbock die Fluchtwege sichern und eine schnelle Zuweisung und Anerkennung in die Zielländer. Das ist zweifellos sehr human gedacht, aber eben wie vieles andere, inklusive EU und Transatlantisches Bündnis auf einer sehr idealistischen Ebene abgehandelt, nicht viel mehr als Wahlpropaganda.
Annalena Baerbock. „Jetzt – Wie wir unser Land erneuern“, Ullstein Verlage, Berlin 2021 234 S.