©Kiepenheuer & Witsch, 2022
Mit „Mein Leben“ konzipiert Alice Schwarzer als Doppelband. Sie verbindet ihre Autobiografie „Lebenslauf“ aus dem Jahr 2010 vom ersten Tag Alice 1942 bis zum ersten Tag „EMMA“ 1977 mit dem thematischen „Lebenswerk“, ihren Recherchen, woher sie kommt, mit den Positionen, wohin und warum sie dorthin gelangt ist, wo sie sich heute befindet.
Alice Schwarzer geht intuitiv und selbstbestimmt ihren Weg von der Journalistin zur Buchautorin, von der aktiven Feministin zur politischen Aktivistin und zur Zeitschriftenverlegerin. 1966 begann sie als Voluntärin in der Provinz. Ihr Talent wurde schnell erkannt und sie wusste es geschickt durch ihre Flexibilität und Eigeninitiativen weiterzuentwickeln. Als gewandte Journalistin setzte sie jedes Thema spannend in Szene. Doch durch die Themen ihrer beiden ersten Bücher über Abtreibung und „Frauenarbeit – Frauenbefreiung“ war sie als Journalistin verbrannt, zu negativ war das Image, als Feministin abgestempelt zu sein. Trotz Fürsprache von Spiegelverleger Rudolf Augstein verhinderte die Mehrheit der „Spiegel“-Redakteure ihre Einstellung. Weil sie sich keinem Kollektivdruck beugte und als mutige Regelbrecherin auftrat, kam auch viel Kritik und Aggression aus den eigenen Reihen. Sie selbst respektierte im politischen Feind den Menschen und grenzte sich deshalb deutlich von den entmenschlichten Gewalttaten der RAF, vom Motto der Linken „Mach kaputt, was dich kaputt macht“ und den „Anything goes“ der Spontis ab.
Dreißig Jahre lang kämpfte Alice Schwarzer für die Abschaffung des § 218, den sie in lakonischer Kürze überaus spannend beschreibt. Ihr Satz „Das ist aber wirklich das allerletzte Mal, dass ich über Abtreibung schreibe“ wurde zum betriebsinternen Running Gag bei „EMMA“.
Privat gibt Alice Schwarzer wenig preis. Von Bruno, ihrer großen Liebe, trennt sie sich in Paris, weil sie in Deutschland in ihrer Muttersprache schreiben und arbeiten will. Die Verliebtheit in Ursula erleichtert ihr den Neustart in Berlin. Elf Jahre nach der Trennung findet sie die Frau, mit der sie bis jetzt ihr Beziehungsideal „Freiheit in Verantwortung“ leben kann. Beide sind ein offenes, aber kein öffentliches Paar.
In 22 Kapiteln erörtert Alice Schwarzer im zweiten Teil die Sachthemen, die sie besonders beschäftigten. Humorvoll beschreibt sie, wie sie bei den Lesungen ihres Buches „Der kleine Unterschied“ unflätige Kritiker durch Wiederholen von deren despektierlichen Diffamierungen der Lächerlichkeit preisgab und wie „EMMA“ zu ihrer Lebensaufgabe wurde. In wechselnden Bündnissen versuchte Alice Schwarzer immer wieder die Sache der Frauen voranzubringen, musste dafür viel Häme und Aggressionen, auch menschliche Enttäuschung einstecken. Nach dem Interview mit Estar Vilar verpasst man ihr das Image der Männerhasserin, die keinen abgekriegt hat. Alice Schwarzer gibt nicht auf, aber zu, wenn sie sich getäuscht hat, wie bei der Berufstätigkeit, der man statt der erhofften Gleichstellung der Frau im Hamsterrad von Beruf, Haushalt und Mutter noch mehr Arbeit, ein permanent schlechtes Gewissen, ständige Verfügbarkeit und „Übermutterung“ aufhalste. Für Kanzlerin Angela Merkel waren Frauen nur eine Spartenthema. Aus ihren „Begegnungen mit Angela Merkel von 1991 – 2020“ bleibt trotz der als naiv kritisierten Flüchtlingspolitik doch ein positives Resümee. „Für die Mädchen und Frauen dieser Welt ist sie eine Ikone.“ Alice Schwarzer thematisiert den Missbrauch von Kindern, die Menschenwürde von Prostituierten, den Silvesterschock in Köln, den Umgang der West-Feministinnen mit den Ost-Genossinnen, Judenhass und Frauenhaus, Soldatinnen und Pazifistinnen. „Menschen brauchen Vorbilder“ ist ihre Botschaft und ihre Vision, dass sich Mädchen und Frauen überall zu jeder Zeit in unterschiedlichsten Situationen angstfrei bewegen können. Trotz der inhaltlichen Überschneidungen des ersten und zweiten Teils ein sehr lesenswertes Buch.
Alice Schwarzer: Mein Leben, Lebenslauf & Lebenswerk, Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2022, 724 S.