Reutlingen – „Gianni Caravaggio – Als Natur jung war“ – ein Überblick über seine Arbeiten im Kunstmuseum Reutlingen | konkret 

Gianni Caravaggio liebt das Material, spielt mit der Wahrnehmung des ersten Blicks und lenkt  durch seine künstlerische Kreativität Gedanken in ganz neue Ebenen sowohl haptisch wie emotional und intellektuell. Er spürt der latenten Symbolik des Materialas durch extreme Reduktion nach. „Essenz“ ist das Signalwort für Gianni Caravaggios Kunst, die Essenz des Materials und die Essenz der künstlerischen Geste. Das Ergebnis sind zeitlose Werke, die den Betrachter in ein kosmisch meditatives Bewusstsein versetzen, in dem Natur und Kultur noch in Balance waren. Am 1. Oktober zeigt das Kunstmuseum  Reutlingen | konkret auf einer Fläche von etwa 1000 Quadratmetern mit rund 25 Arbeiten von 1995 bis 2021 nahezu alle wichtigen Meilensteine im Schaffen Gianni Caravaggios. Einige Werke  hat der Künstler eigens für diese Überblicksausstellung angefertigt. Allein schon durch den Titel „Als Natur jung war“ beweist er, dass konkrete Kunst noch längst keine historisch gewordene Kategorie geworden ist. Den Besucher erwartet damit die einmalige Gelegenheit, diesen Künstler in seinen ganzen Facetten und gleichzeitig konkrete Kunst über drei Jahrzehnte kennenzulernen…

Gianni Caravaggio „Als Natur jung war“ (2021), grüner Guatemala-Marmor, Foto: Andrea Rossetti, 2021 ©Gianni Caravaggio

Das Kunstmuseum Reutlingen | konkret wurde eigens in den Wandelhallen einer Metalltuch- und Maschinenbaufabrik gegründet, um die Schenkung umfassender Werkgruppen aus den Beständen der Stiftung für konkrete Kunst und der Privatsammlung von Manfred Wandel zu zeigen, darüber hinaus wichtige Einzelpositionen international renommierter Künstler.

Gianni Caravaggio, 1968 in Italien geboren, studierte Kunst und Philosophie, lebt und arbeitet in Mailand. Es geht ihm in seiner Kunst um nichts Geringeres als das Essenzialistische. Er offeriert die physischen Eigenschaften des Materials und dessen kulturelle Konnotationen, bearbeitet sie und schafft durch entsprechende Titel neue metaphorische Ebenen, die die  verwendeten Werkstoffe nicht im zeitlichen Kontext, sondern in archaischer Zeitlosigkeit erleben lassen.

Ausstellung Gianni Caravaggio im Kunstmuseum Reutlingen konkret präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

Gianni Caravaggio „Du“ (1999), Fotodruck auf Papier, Foto: Studio Gianni Caravaggio © the artist

Deshalb bevorzugt Gianni Caravaggio Materialien wie Bronze, Aluminium, Marmor, Terrakotta und Holz. Oft kombiniert er sie mit ungewöhnlichen Stoffen wie Polystyrol, Talkpuder, Zucker, Salz, Samen von Hülsenfrüchten,  Anglerschnur, Wollfäden und Papier, stellt sie lieber auf den Boden als auf Sockel und Stelen, was direkte Bezüge zur Arte Povera der 1960er und 70er Jahre assoziieren lässt. Sechs Messingstangen von einem Mittelpunkt zu einem Halbkreis gelegt, mit rotem Faden verbunden lösen durch den Titel „Nach der Morgenröte befreit sich die Sonne“  ganz neue Überlegungen aus. 

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Gianni Caravaggio „Nach der Morgenröte befreit sich die Sonne“ (2021), geöffnete Form; Messing, roter Synthetikfaden, Foto: Andrea Rossetti, 2017 ©Gianni Caravaggio.

Der Reiz von Gianni Caravaggios Arbeiten liegt in der Synthese gigantischer Raum- und Zeitstrukturen. Sie werden regelrecht skaliert, wenn Stein und Samen unterschiedlichste Zeitdimensionen eröffnen. Wie ein Samen soll auch Gianni Caravaggios Kunst aufgehen. 

Seine Arbeiten bilden nicht die Gegenwart ab, sondern spüren den kosmischen allgegenwärtigen Energien nach, die er sinnlich erfahrbar machen will. Natur und Landschaften, die zentralen Begriffe in Caravaggios Werk dienen rein der poetischen Empfindung und lassen kosmische Momente erleben. Der Boden oder eine Anglerschnur werden zum Horizont, Schwarz und Weiß polarisieren negatives und positives Universum.

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Gianni Caravaggio „Positives Universum“ (2002/2004) und „Negatives Universum“ (2002/2004), Fotodruck eines Foto-Negativs, Polystyrol, schwarze Linsen, Foto: Studio Gianni Caravaggio ©the artist.

Bei „Bildsamen“ bröckelt weiße Wandfarbe auf eine schwarze Marmorplatte, wodurch  ein neuer sich in die Wandtiefe wölbender Raum entsteht. Der Prozess des Zerfalls, des „Zu-Staube-Werbens“ verwandelt sich in das Gegenteil, neuen Raum zu schaffen. 

In „Sugar, no sugar molecule“ verbindet Gianni Caravaggio kleine Marmorwürfel mit Würfelzuckerstrukturen zu einem gepixelten  quaderförmigen Stein, der durch den Titel  auf  binäre Strukturen verweist. „Sugar – no sugar“ in ein antagonistisches Symbol von Lang- und Kurzlebigkeit verwandelt.

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Gianni Caravaggio „Sugar no sugar molecule“ (2002), Weißer Carrara-Marmor, Bardiglio-Marmor, Zuckerwürfel, Polystyrol, Bleistiftschrift auf Wand, Foto: Studio Gianni Caravaggio ©the artist.

Bei  „Handeln wie die Sichel des Kronos“ hängt ein orangefarbenes Nylonseil von der Decke herab und trifft auf einen in gedachter Verlängerung auf einen 155 cm hohem Bronzeguss des Seils. Die Trennstelle wird zum Schnitt zwischen »noch bewegt«  und »nicht mehr bewegt«, zwischen lebendig und tot, aber eben in Umkehrung. Der rote, tote Teil wirkt frei. Ein Windstoß kann ihn bewegen. Der am Boden geometrisch verankerte Guss ist starr unverrückbar. Erstarrt kann sich nichts Lebendiges entwickeln. So lässt sich zu jedem Werk Caravaggios  eine Geschichte finden, in der grundlegende Fragen menschlicher Existenz neu und sehr poetisch gedacht werden. 

Die Ausstellung „Gianni Caravaggio – Als Natur jung war“, von Museumsdirektor Holger Kube Ventura bestens kuratiert, ist vom 1. Oktober bis 30. Januar im Kunstmuseum Reutlingen | konkret zu sehen. 

Zur Ausstellung erscheint ein zweisprachiger Katalog mit Beiträgen von Nike Bätzner, Gianni Caravaggio, Linda Carrara, Daniela Ferrari, Holger Kube Ventura.