München – Sergej S. Prokofjews „Krieg und Frieden“ an der Bayerischen Staatsoper zum falschen Zeitpunkt 

Prokofjews "Krieg und Frieden" in der Staatsoper präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Bayerische Staatsoper, Wilfried Hösl

1941, als die deutschen Truppen vor Moskau standen, begann Prokofjew seine bereits lang gehegte Idee zu realisieren, Lew Tolstois 1500-seitigen Roman „Krieg und Frieden“ zu vertonen. Mit seiner Frau schrieb er das Libretto in 13 Szenen, wobei die Handlung wesentlich später als im Roman beginnt und Tolstois gekonnte Montagetechnik von Einzelschicksalen, historischem Fakten und religiös philosophischen Seinsfragen einem vereinfachten zweigliedrigen Konzept von Frieden im ersten Akt und Krieg im zweiten wich. 1943 mit der Niederlage der Deutschen bei Stalingrad wurde das Werk fertig. Die Parallelen zu Napoleons Russland-Feldzug, dem historischen Hintergrund von Tolstois Roman, sind frappierend. Doch die Akzente verschoben sich. Aus dem zutiefst pazifistischen Roman wurde eine heroisch patriotische Oper, die Prokofjew auf Wunsch der KPdSU in den Folgejahren nach Stalins Forderung „national in der Form, sozialistisch im Inhalt“ ständig verändern musste. Erst nach Stalins und Prokofjews Tod, beide starben am 5. März 1953, wurde die Oper inszeniert und uraufgeführt.

Auch wenn Vladimir Jurowski den zweiten Teil um etliches kürzte, den heroischen Schlusschor in ein Bläser-Ensemble auf der Bühne umwandelte, setzt der letzte Satz „Jetzt ist Russland gerettet“ den verbalen Schlussakzent. Oder auch nicht kann man natürlich in der Verlängerung der Historie reflektieren, denn Regisseur Dmitri Tcherniakov setzt auf Satire. Er ließ das berühmte Moskauer Haus der Gewerkschaften mit seinen Säulenarkaden und Kronleuchtern, ein Prunkbau des zaristischen Feudalsystems, das nach der Revolution 1917 verstaatlicht wurde, nachbauen. Tcherniakov nutzt den Ballsaal als Kriegsschauplatz. Wie auf einem Schlachtfeld liegen die Mitwirkenden wie tot auf dem Boden. Im Scheinwerferspot erstrahlt eben nicht die Belle Époque, sondern die Figuren erwachen als Menschen der Gegenwart in Alltagskleidung. Isoliert, jeder für sich seine Gefühle reflektierend, weil Prokofjew im ersten Teil auf die Übernahme von Tolstois Prosa bestand, bleibt der Duktus trotz der Liebesverwirrungen vorwiegend erzählend ohne dramaturgische Höhepunkte. Fürst Andrej verliebt sich in die lebensfrohe Natascha. Er will sie gegen den Willen der Familie heiraten, wird aber wegen des bevorstehenden Krieges gegen Napoleon einberufen. Der Lebemann Anatol macht Natascha währenddessen den Hof und erobert sie, indem er mit Selbstmord aus Liebe kokettiert. Nataschas Schwester verhindert die Flucht der beiden. Aber Natascha ist entehrt. 

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©Bayerische Staatsoper, Wilfried Hösl

Zwischen den Liebeswirrungen flackert der Krieg schon auf. Mit Gewehren wird getanzt, reihum Ringelstechen gespielt. Der Liebe folgt im zweiten Teil die Satire der Kriegswirren. Die Kronleuchter sind jetzt mit Trauerflor verhüllt. Der Palast wird zum Matratzen- bzw. Gefangenenlager, Schützengraben und Lazarett, Kampf, Grausamkeiten, wohin man blickt. Es wird geboxt, gekämpft, doch versetzt mit Capoeira-Elementen, vergewaltigt, aber auch mit sich erfolgreich wehrender Frau, ist Satire immer wieder spürbar und kulminiert grotesk in der Napoleon-Szene. In roten Glanzhosen und strahlend blauem Jacket auf einem Stuhl, damit er größer wirkt, ist er der Höhepunkt der Inszenierung, die völlige Karikatur eines Mächtigen, der nur Dinner-for-One-Slapstick inklusive Torte ins Gesicht als Disziplinierungsstrategien kennt und sich noch im Sieg wähnt, obwohl er schon geschlagen ist. In diesem Moment projiziert man Putin und all die anderen Diktatoren, die sich so mächtig glauben, als könnten sie die Welt verändern. Graf Pierre, der väterliche Mentor Nataschas, in dem sich Tolstoi selbst spiegelt, steht dagegen  auf einer ganz anderen menschlichen Ebene. „Durch die Entbehrungen, durch das Grauen des Todes und durch die schlimmen Erlebnisse fand ich zu Ruhe und Einklang mit mir selbst“ und er ergänzt als Sinnsucher, was zu tun ist „…sich besinnen, verstehen…“ Genau das fordert diese Inszenierung. 

Die musikalische Interpretation ist beeindruckend. Dreieinhalb Stunden lang lebt Vladimir Jurowski die Partitur körperintensiv mit und präsentiert trotz der Kürzungen ein homogen fühlbares Gesamtwerk. Er lässt die unterschiedlichsten Stilelemente dieser Musik überaus transparent aufleuchten, gibt allen SängerInnen punktgenau den Einsatz, begleitet auch ihre Melodien mit weiter Gestik, modelliert die harmonischen Strukturen plastisch heraus, durchkreuzt sie mit markanten Trommelwirbeln und dissonant schräger Tonalität, womit er den satirischen Charakter der Inszenierung unterstreicht und gleichzeitig das apokalyptische Gemetzel hörbar macht. Dazwischen ein paar glückselige Walzertakte, die schnell wieder in schrille Tonalitäten abtauchen, erinnern an Nataschas und Andrejs Liebe. Den zwei Dutzend Haupt- und NebensängerInnen  gibt Vladimir Jurowski selbst im größten Kriegsgelärme Raum sich zu entfalten, ein gewaltiger Balanceakt, aus dem Natascha Rostowa (Olga Kulchynska), Fürst Andrej Bolkonski (Andrei Zhililkovsky), Graf Pierre (Arsen Soghomonyan) , Michail I. Kutusow (Dimitry Ulyanov) stimmlich aufleuchten.

Künstlerisches Team: Vladimir Jurowski (Musikalische Leitung), Dmitri Tcherniakov (Inszenierung und Bühne), Elena Zaytseva (Kostüme), Gleb Filshtinsky (Licht), Ran Arthur Braun (Kampfcoach), David Cavelius (Chöre), Analena Weres (Konzeptionelle Mitarbeit), Malte Krasting (Dramaturgie)