"Kultur macht glücklich"


Berlin – Marcs Moraus neue Choreografie „Wunderkammer“ getanzt vom Staatsballett Berlin im Schillertheater – der Mensch als Kuriosum

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Berlin – Marcs Moraus neue Choreografie „Wunderkammer“ getanzt vom Staatsballett Berlin im Schillertheater – der Mensch als Kuriosum

©Staatsballett Berlin, Foto: Jan Revazov

Im grellen Lichtkegel spielt ein Akkordeonspieler, vom sphärischen Sound und Gesängen übertönt und lockt  27 Tänzerinnen und Tänzer in hautfarbenen Trikots in das Lichtfeld. Sie eröffnen die mit rhythmischen Flamenco-Zapateados Marcos Moraus „Wunderkammer“…

in acht Kapiteln, einschließlich des „Vorspiels“ und dem „großen Finale“. Morau will diese Wunderkammern nicht nachbilden, sondern die damit verbundenen Erfahrungen, Gefühle und atmosphärischen Stimmungen auf die Gegenwart übertragen. Statt Monstern, Hybriden und sonstigen Kuriositäten werden die Menschen ausgestellt. Morau fokussiert auf die krassen Gegensätze von Schönheit und Abnormität, gesellschaftlichem Miteinander und individuellem Ausgegrenztsein. In raffiniert ineinandergreifenden Bühnensequenzen oszilliert die Szenerie zwischen Licht- und Schattenreichen, narzisstischen Selbstbespiegelungen, glitzerndem Kabarettmilieu und ekstatischer Rave-Party, zwischen Groteske und Existentialismus.

Jede Sequenz hinterfragt unseren Lebensstil, in dem der Körper Dinge vorgibt, die er nicht erfüllen kann, und alles Andersartige ausgestoßen wird. Die Gemeinschaft ist letztendlich Zufluchtsort und Rettung, was Morau durch spirituelle Kreistänze, vor allem aber durch körperliche Verschlingungen ausdrückt, die in Pyramidenform zum „Heiligtum“ transzendieren, eine der stärksten Szenen des Abends. Doch Sucherscheinwerfer tauchen die Bühne wieder in ein Schattenreich, das die Gemeinschaft vernebelt und sprengt, um sie dann im nächtlichen Vergnügen zu beleuchten. In der stereotypen Optik der 1920er Jahre reihen sich die Tänzer und Tänzerinnen auf einer endlos langen Couch, robben zum Bühnenrand und blicken wie Schießbudenfiguren in das Publikum. 

Zu den Geräuschen der Maracas verwandeln sie sich in beschwingte Rumbatänzer, umflirrt von ihren glitzernden Fransenröckchen. Doch die Geräusche verhindern, dass sie sich selbst hören können. Die Menschen stellen sich Ruhe vor, rennen aber ständig vor ihr weg und füllen das Nichts ihrer Existenz mit ihrer Vorstellungskraft. Das Publikum wird zum Voyeur, staunt wie in einer Wunderkammer über körperliche Verrenkungen und Schieflagen, sexuelle Andeutungen, abgestoßen und zugleich fasziniert von exzentrischer Unterhaltung und Grenzüberschreitungen. 

Nur selten leuchten kurz ein Solo oder Duett auf. Morau bevorzugt flächenhafte Ensembleszenen, in denen die Tänzerinnen und Tänzer ihre Ideen einbringen können und sich ein ungewöhnlicher Sog entwickelt, dem man sich als Zuschauer kaum entziehen kann.

Mit dieser Transformation der „Wunderkammer“ auf die menschliche Kuriosität und Existenz gelingt Markus Morau ein außergewöhnlicher, tiefsinniger Tanzabend mit sehr eindringlichen Bildsequenzen. Das menschliche Individuum als Kuriosum in einer zunehmend typisierten Massengesellschaft macht nachdenklich.

Künstlerisches Team: Marcos Morau (Choreografie, Songtexte), Clara Aguilar (Musik)  Ben Meerwein (Musik, Songtexte), Katja Wiegand (Songtexte), Max Glaenzel (Bühne), Silvia Delagneau (Kostüme), cube.bz (Licht), Katja Wiegand (Dramaturgie) 

Mit: den Tänzerinnen und Tänzern des Staatsballetts Berlin