©Schauspielhaus Bochum, Thomas Aurin
Sandra Hüller mag die Texte Heiner Müllers, die sie persönlich bewegen. Leise, schlicht, unaufgeregt, wie in einem Selbstgespräch intoniert sie und zieht gerade dadurch das Publikum in ihren Bann. Durch eine riesengroße rosarote Schleife wie ein Praliné verkleidet, als ironischer Seitenhieb auf Müllersches Sprachpathos denkbar, erzählt sie von Herkules, wohl dem ältesten Arbeiter der Kulturgeschichte. Flankiert von Sandro Tajouri und Moritz Bossmann in auffälligen gemusterten Riesenshirts agiert das Trio mit pantomimischen Effekten, ausgestellten Akzenten subtil zwischen clownesker Komödie und antikem Chor.
Alleingelassen vor offen lodernder Feuerstelle beginnt Sandra Hüller immer tiefer in den Urgrund von Arbeit hinunterzufragen. Das Feuer, zugedeckelt, knistert hörbar weiter, wandelt sich in Musikakkorde, in Tonstörungen später in sphärische Tonalitäten, während Sandra Hüller in einem Durcheinander von Bühnenbauten und Tonstrukturen agiert. Sie hinterfragt in diesem experimentellen Umfeld von Versuch und Irrtum den Begriff Arbeit aus verschiedenen Perspektiven, bewertet nicht, will nur erforschen, um zu verstehen. „Früher war die Arbeit nur Gemeinschaftsarbeit, niemals nur um Besitz anzuhäufen und andere auszutricksen.“ Die Vereinzelung und Entfremdung schritt voran, weil das kollektive Bewusstsein verloren ging, weshalb heute eben jede Dokumentation personifiziert werden muss.
©Schauspielhaus Bochum, Thomas Aurin
Sandra Hüller agiert kaum, positioniert sich nur ab und zu als Subjekt neu in dieser Bühnenlandschaft aus Objekten, stemmt sich in ihrer egomanischen Einsamkeit gegen kippende Möbel, gegen die Decke, die durch ihr Strahlenrelief göttliche Strukturen mit ins Spiel bringt. „Wäre nicht das Göttliche die Befreiung von Funktionalität?“ Im Gegenlicht, von einer Lichtaura umglänzt, sinniert Sandra Hüller über die Transformation höherer Welten, doch es passiert nichts. Ganz im Gegenteil, je mehr sie sich gegen die Objekte stemmt, desto mehr wird sie von ihnen vereinnahmt.
Die Stream-Version unterstreicht die Vereinsamung der Menschen, rückt ab vom Zusammenhalt durch die Zentralperspektive, spürt stattdessen den Akteuren einzeln nach, die vor sich hinarbeiten, ohne vom anderen Notiz zu nehmen. Ein Steinklumpen in Nahaufnahme, der in einer Betonmischmaschine klein geschliffen wird, bringt das existenzielle Sein unserer Tage exzellent auf den Punkt genauso wie der Biss in ein riesiges Holzscheit als Symbol humaner Naturzerstörung inklusive einem Nebelmeer und apokalyptischem Gedröhn, durchaus als Finale denkbar.
Doch auf der Bühne folgt noch ein dritter Teil als literarische Klammer zum Beginn. Sandra Hüller steigt regelrecht aus dem Bühnenbild, den Tableaus ihrer Reflexionen, übernimmt wieder die Rolle der Erzählerin, verlebendigt Heiner Müllers Text „Herakles 2 oder Die Hydra“, indem Herakles Tötung seiner Familie interessanterweise nicht die Ursache ist, sondern die Folge seiner Aufgaben. Im Wald kämpft er gegen die Gravitation seines Körpers, den Schmerz seiner Bewegungen und er erkennt, dass der Schoß, in dem er gelandet ist, sein Tod ist. Das ist ein Theaterabend, der die Gehirnzellen fordert, spannend jeder Satz und so manchner nistet sich ein ins Gedächtnis und bohrt weiter.
„Hydra“ steht im Schauspielhaus Bochum derzeit als Video on Demand auf dem Spielplan und kommt nach der Pandemie wieder auf die Bühne.
Hinter der Bühne: Tom Schneider (Regie), Michael Graessner (Bühne, Kostüme), Musik (Moritz Bossmann, Sandra Hüller, Sandro Tajouri), Wolfgang Macher (Lichtdesign) Tobias Staab (Dramaturgie)
Auf der Bühne: Moritz Bossmann, Michael Graessner, Sandra Hüller und Sandro Tajouri