"Kultur macht glücklich"


Jia Zhangke „Caught by the Tides“ – ein Spielfilm, in dem sich 20 Jahre chinesische Entwicklung spiegeln

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Jia Zhangke „Caught by the Tides“ – ein Spielfilm, in dem sich 20 Jahre chinesische Entwicklung spiegeln

©Rapid Eye Movies

Ein kleines Feuer in der Ödnis zieht einen Motorradfahrer mit einer Zange in der Hand in seinen Bann. Kombiniert mit dem Satz…

 „Nicht mal ein Buschfeuer vernichtet alles Unkraut. Im nächsten Frühling wächst es nach“ verrätselt und entschlüsselt der chinesische Meisterregisseur Jia Zhangke seinen neuen Film „Caught by the Tides“, zu Deutsch gefangen in den Gezeiten. Seine Fans werden viele Sequenzen aus seinen früheren Filmen wiederkennen. Über diese dokumentarisch anmutende Werkcollage entlang einer einer zerbrochenen Liebesbeziehung weitet sich der Film zum Porträt von Chinas gigantischer Entwicklung in den letzten 20 Jahren vom entscheidenden Eintritt in die WTO 2001 mittels US-amerikanischer Hilfe über die Einweihung des Drei-Schluchten-Stausees am Jangtsekiang, dem größten Staudamm der Welt, den Bau von Atomkraftwerken bis zum Lockdown in der Coronazeit. Die fragmentierte Filmcollage wirkt nicht zuletzt so authentisch, weil beide Protagonisten in Echtzeit gealtert sind.

Der Film beginnt mit singenden Frauen in Datong in Nordchina. Trotz der ärmlichen Verhältnisse wirken sie fröhlich und glücklich. Diese Bescheidenheit und Rückbesinnung auf die menschliche Kontakte taucht immer wieder auf. „Gesang, Tanz, Tee sind die Genüsse der Welt“, selbst im ärmsten Milieu und in Zeiten von Corona, natürlich mit Sicherheitsabstand.

Die hübsche Qiaoqiao, gespielt von Jia Zhangkes Ehefrau Zaho Tao ist anders, will von den Burschen, die sie mit ihren Mopeds umkreisen, nichts wissen. Sie modelt und tanzt, verliebt sich in Bin (Li Zhubin), der sie aber verlässt, um beim Bau der Talsperre sein Glück zu finden. Auf der Suche nach ihm durchkreuzt Qiaoqiao China von Nord nach Süd bis nach Zhuhai. Aus der Distanz einer Reisenden nimmt sie die extremen Diskrepanzen zwischen Armen und Reichen, Fortschritt und Entwurzelung, traditionellen und zusehend westlich geprägten Lebensstil wahr. Für das Vaterland müssen Tausende von Menschen ihre Heimatdörfer im Überflutungsgebiet des Drei-Stufen-Stausees verlassen. Ein Bauer müht sich auf seinem Feld ab, über ihm düst ein Passagierflugzeug vorüber. Trotz des Fortschritts ist das Geldverdienen nicht leicht. Die meisten Menschen wirken arm, unglücklich, im Alter vereinsamt, daran ändert auch der neue Unterhaltungssaal für die ehemaligen Minenarbeiter nichts, wo Frauen für Rentner Stücke aus der chinesischen Oper singen. Qiaoqiao beobachtet nur ohne zu bewerten. Ihre Lebenserfahrungen haben ihr Gesicht ernst gemacht. Nur ein Empfangsroboter ringt ihr während der Coronazeit ein Lächeln ab und ein nächtliches Popkonzert mit westlicher Musik zaubert die Melancholie über die verlorene Liebe in ihr Gesicht. Ihr Leben hat sich vollkommen geändert, aber sie findet sich damit ab, läuft im Regen bei einem nächtlichen Massenstadtlauf mit. Ihr Befreiungsschrei signalisiert, dass sie mit sich im Reinen ist. 

Im Abspann hinterlässt Jia Zhangke seine Botschaft: „Da steh ich nun an meinem Geburtsort. Von oben drückt der Himmel und testet mein Stehvermögen…da stehe ich nun und mein Herz will, dass ich weiterlebe.“ 

„Caught by the Tides“ wurde zu den Wettbewerbsfilmen beim Filmfestival in Cannes eingeladen und ist ab 15. Mai in den deutschen Kinos zu sehen.

Künstlerisches Team: Jia Zhangke (Drehbuch, Regie), Wan Jahuan (Drehbuch), Lim Giong (Komponist), Yu Lik Wai, Eric Gaultier (Chef-Kameramann), Yang Chao (Chef-Cutter)

Mit: Zhao Tao, Zhubin Li u.a. 

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