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„Momo“? Der Titel irritiert, weil er in Deutschland sofort Michael Endes „Geschichte von den Zeitdieben“ suggerieren lässt. Choreograf Ohad Naharin interessiert nicht die Handlung dieses Märchenromans von 1973 aber …
„Momo“ als Metapher für die Suche nach dem Wesentlichen, die sich daraus entwickelt. Ganz langsam schreiten vier Tänzer in blauen Hosen, barfuß mit nackten Oberkörper synchron über die Bühne. Sie bleiben den ganzen Abend zusammen als Kette, Kreis, Oval sich umschlingend, kurz lösend, abrupt auf den Boden knallend und sich wieder verbindend. Punktgenau zu den Beats der Musik schleppen sie sich vorwärts, befreien sie sich endorphinisiert für kurze Momente, um wieder in Mühsal weiter zu funktionieren, schließlich zu revoltieren, wobei sie gegen eine unüberwindbare Wand laufen, so dass sie in ihre ursprüngliche Formation zurückzukehren, die im Gegensatz zum Beginn in meditativer Gleichförmigkeit und Wiederholungsstrukturen durchaus Schutz gewährt. Das ist der eine Erzählstrang, wovon sie träumen der andere.
Sieben SolistInnen, vier Frauen, drei Männer mehr oder weniger stark in Nudeoptik präsentieren ein Feuerwerk erotischer Verführungsposen. Sie locken durch sinnliche Bewegungen und verdeutlichen dabei ganz unterschiedliche Narrative von Machismo, Diversität und Begehrlichkeiten. Doch die sieben TänzerInnen kreisen letztendlich nur um ihre eigene Persönlichkeit, unfähig Beziehungen einzugehen. Evolutionäre Entwicklungen leuchten in spezifischen Bewegungsformen auf, wenn sie wie Affen über die Bühne springen oder an der Boulderwand im Hintergrund entlang klettern. Mit welcher Botschaft? Trotz der gemeinsamen Abstammung entwickeln sich ganz individuelle Konstellationen und Lebensweisen als Individuen oder Gemeinschaftswesen.
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Durchpulst von Laurie Andersons poetisch apokalyptischer Violinmusik „Landfall“, Philipps Glas’ melancholischer Minimalmusik „Metamorphosis II“ und Arcas zutiefst berührender „Madre Acapella“, von Naharin kompositorisch fusioniert, spannt „Momo“ den Bogen von Entwicklung, Zerstörung, von Erschöpftsein und Euphorie, Knock-out und Neubeginn, wobei Naharin trotz der von ihm entwickelten Bewegungssprache „GAGA“ in Kombination mit rhythmisierten Kampfschreien und Flamenco-Zapateados den TänzerInnen Raum gibt ihre individuellen Varianten zwischen wuchtiger Gravität und subtiler Leichtigkeit in Szene zu setzen. „Momo“ ist ein charismatisches Stück, gerade weil es nicht drängelt, geballte Tanzexplosion mit meditativer Ruhe kontrastiert und zu den Wurzeln des Wesentlichen zurückkehrt, zur menschlichen Gemeinschaft.
Über 30 Choreografien hat Ohad Naharin für die Batsheva Dance Company kreiert, seitdem er nach 16 Jahre als Tänzer 1990 die künstlerische Leitung übernahm und im selben Jahr das Batsheva – the Young Ensemble gründete. Immer auf der Suche nach tänzerischer Expression in allen Lebenssituationen entwickelte er „GAGA“ als eigene Bewegungssprache, die bisherige Bewegungsgrenzen überschreitet und alle Gefühle im Tanz auslotet, was durch seine Musikauswahl, darunter auch eigene Kompositionen sehr intensiviert wird. Nach fast dreißig Jahren an der Spitze von Batsheva trat Naharin 2018 als künstlerischer Leiter zurück und fungiert weiterhin als Hauschoreograf des Ensembles. Für sein Lebenswerk wurde Naharin 2016 vom israelischen Kultusministerium ausgezeichnet. 2018 bekam er ein Ehrenstipendium der Universität Tel Aviv, 2019 den Ehrendoktortitel der Ben-Gurion University of the Negev, 2023 den Commandeur de l’ordre des Arts et des Lettres (2023).
Künstlerisches Team: Ohad Naharin (Choreografie), Ariel Cohen (Ko-Kreation), Avi Yona Bueno (Licht), Gadi Tzachor (Bühnenbild, Requisiten), Eri Nakamura (Kostüme), Maxim Waratt, alias Ohad Naharin (Sounddesign, Schnitt), Kronos Quartet (Musik aus dem Album von Laurie Andersons „Landfall“) Philipp Glas (Musik aus „Metamorphosis II“), Arca („Madre Acapella“) Maxim Waratt, alias Ohad Naharin (Sounddesign)
Mit: Yarden Bareket, Emil Brukman, Adi Blumenreich, Nathan Chipps, Holden Cole/Sean Howe, Guy Davidson, Londiwe Khoza, Adrienne Lipson, Bo Matthews, Igor Ptashenchuk, Yoni (Yonatan) Simon