Verschleiert, unterdrückt ist das gängige Klischee der arabischen Frauen. Dabei gibt es in den Ländern des Orients eine sehr lange feministische Tradition. Schon vor 100 Jahren begannen die Frauen für ihre Rechte zu kämpfen. Die Bedeutung dieser Frauenbewegung will Claudia Mende in ihrem Buch „Wir sind anders als ihr denkt“ ins Bewusstsein bringen. Sie beginnt mit der Aufbruchstimmung der Frauen nach westlichem Vorbild und kommt über Staatsfeminismus, Arabellion, feministischen Islamismus, koloniale Lasten zu den veränderten Lebensverhältnissen mit Frauen auf dem Vormarsch, wobei der Leser einen sehr guten Überblick über die Entwicklung des arabischen Feminismus bekommt…
©Westend-Verlag 2024
Fundiert anhand von einzelnen Frauenrechtlerinnen zeigt Claudia Mende, mit welchem Mut und Engagement sich Araberinnen für die Frauen ihres Landes einsetzten, vor allem in Ägypten und Tunesien. Hoda Shaarawi (1879-1947) gilt als Ikone der ägyptischen Frauenbewegung in einer Zeit, als infolge der kolonialen Verwaltungen die Frauen der Oberschicht mehr Rechte für die arabischen Frauen einzufordern begannen, die nach der Selbstständigkeit der Länder im Rahmen angestrebter Verbesserungen teilweise realisiert wurden, ohne aber die klassische Rollenverteilung aufzugeben und die Situation der ländlichen Frauen miteinzubeziehen. Der Mann agiert in der Öffentlichkeit, die Frau bleibt zu Hause und ist unsichtbar.
Durch Israels Angriffskrieg 1967 wurden die feministischen Anfänge jäh beendet. Die arabischen Herrscher distanzierten sich vom Westen, besannen sich mehr denn je auf die eigene Tradition und Religion. Konservatismus und Islamismus setzten sich wieder durch.
Auch während des Arabischen Frühlings 2011 kämpften die Frauen mutig an der Seite der Männer für die Demokratisierung und Gleichstellung der Frauen. Man begann neue Themen wie Sexualität, Schutz vor Gewalt, Arbeitsteilung in der Familie öffentlich zu diskutieren, doch mit dem Scheitern der Arabellion wurden die feministischen Forderungen ignoriert. Das familiäre und soziale Zusammenleben funktioniert immer noch nach dem Werteprinzip von „Ehre und Schuld“, wobei die Frauen bezüglich Sexualität, Gewalt, Vormundschaft und Erbrecht extrem benachteiligt werden.
Anhand von Einzelbeispielen veranschaulicht Claudia Mende diesen Zickzackkurs des arabischen Feminismus und bringt dabei immer wieder die unterschiedlichen Situationen in den einzelnen arabischen Ländern und der christlichen Frauen im Orient ein, die genauso unterdrückt werden.
Claudia Mende spricht die Tabus wie Sexualität, Vergewaltigung und Ehrenmorde offen an. Die Männer nehmen sich, was sie wollen, ohne die Frauen zu fragen, wie sie sich fühlen. In Tunesien wurde das Gesetz 58, in dem psychische, physische und sexuelle Gewalt an Frauen unter Strafe steht, zum Meilenstein der feministischen Bewegung. Die finanziellen Hilfsmittel für die betroffenen Frauen fehlen dagegen immer noch.
Über die marokkanische Frauenrechtlerin Asma Lamrabet grenzt Claudia Mende den arabischen Feminismus vom europäischen ab, weil die Situation der Frauen durch die Religion und die daraus abgeleiteten Rechte eine ganz andere ist. Über die frauenfeindliche Interpretation religiöser Texte wurde in den arabischen Ländern ein Rechtssystem zugunsten der Männer aufgebaut, die Frauen unisono zu Menschen zweiter Klasse degradiert, weshalb sich arabische Feministinnen auf den Ijtihad der islamischen Reformtheologen beziehen. Ein weiblicher Iman als Zeichen der Gleichheit von Mann und Frau wie in den USA ist immer noch undenkbar.
Die Kolonialzeit wird von den arabischen Feministinnen sehr kritisch beurteilt. Man braucht keine westlichen Vorbilder mehr, „Dekolonisiert den Feminismus“, fordert die tunesische Politologin und Philosophin Soumaya Mestiri. Er hat nie die Rolle der indigenen Frauen berücksichtigt und das koloniale Erbe verhindert einen Dialog auf Augenhöhe. Die Kolonialherren insbesondere die Franzosen benutzten in Algerien das öffentliche Entschleiern der Frauen als Strategie den Islam auszuschalten, wodurch das Verschleiern seitens der Einheimischen noch mehr verstärkt wurde. Die Amerikaner legitimierten die Bombardierung Afghanistans damit, die Frauen zu befreien und gleichzeitig das Land als archaisch abzuwerten und den Krieg als „Zivilisationsmission“ aufzuwerten. Durch den Irankrieg verschlechterten sich v.a. die Lebensbedingungen der Frauen. Sie verloren ihre Jobs und sozialstaatliche Unterstützung für ihre Kinder.
Was letztendlich die patriarchalische Systeme ändert, sind, genauso wie einst im Westen, die sich wandelnden ökonomischen Verhältnisse und die Berufstätigkeit der Frau. Bestes Beispiel sind die arabischen Emirate, allen voran Abu Dhabi und Tunesien. Insgesamt ist die Stellung der Frauen in den einzelnen arabischen Ländern immer noch sehr konträr. Das kleine Tunesien hat die Gleichstellung der Frau realisiert, während Saudi-Arabien, größtes Land in restriktiven Konservatismus verharrt. Man visioniert zwar für 1930 das postfossile Zeitalter, wofür man auch weibliche Arbeitskräfte braucht, aber eine rechtliche Gleichstellung ist nicht in Sicht.
„Die patriarchalische Männlichkeit verliert an Boden“, resümiert Claudia Mende. „Eine Region ist auf der Suche nach neuen Geschlechterrollen.“
Claudia Mende ist in den USA, Frankreich, Jordanien und Ägypten aufgewachsen. Sie studierte Theologie, Politikwissenschaft und Neuere Geschichte in Bonn und Münster. Sie arbeitete in der Entwicklungszusammenarbeit und dann als freie Autorin mit Schwerpunkt Naher Ostern und Nordafrika. Sie war langjährige Autorin und Redakteurin bei Qantara.de, dem Online-Magazin der deutschen Welle zum Dialog mit der arabischen Welt.
Claudia Mende „Wir sind anders als ihr denkt. Der arabische Feminismus“, Westend Verlag, Neu-Isenburg 2024, 173 S.