© LesFilmsPelleas/LesFilmsDePierre
Das viel zu große, noch unfertige Chalet in abseitig hochalpiner Lage spiegelt trotz des gemütlichen Wohnzimmers die Unbehaustheit der Menschen, die darin wohnen. Nach dem Unfall ihres Sohnes Daniel, der von einem Motorradfahrer angefahren wurde und erblindete, wuchsen die Geldsorgen, die noch größer wurden, als die Familie auf Wunsch des Vaters von London an den Ort zurückkehrte, wo er aufgewachsen ist. In der Stille der Bergwelt versucht jeder mit seiner Traumatisierung fertig zu werden. Sandra schreibt, ihr Mann Samuel ebenfalls, hat aber damit wenig Erfolg, ebensowenig mit der Haussanierung, die sich hinschleppt. Er übernimmt den Haushalt, kümmert sich um Daniel. Dessen einziger Freund ist ein Hund und seine Gefühle reagiert er leidenschaftlich, zuweilen sehr dissonant am Klavier ab.
Im Gerichtssaal eröffnen sich immer neue Perspektiven auf das Verhältnis von Samuel und Sandra. Daniel will dabei sein, alles hören, um herauszufinden, was wahr ist. Doch was ist wahr? Immer wieder kann Sandra Hüller in der Rolle der Angeklagten durch ihr schauspielerisches Talent und ihre brillanten Argumentationen die Anschuldigungen entkräften. Sohn Daniel, durch einen Unfall erblindet, gilt als behindert. Ist das die Wahrheit? Für sie ist Daniel ein Kind, das ist die Wahrheit. Vor Gericht geht es nicht um die Wahrheit, sondern wie etwas wahrgenommen wird. Ein Ehestreit auf Band aufgenommen spiegelt nicht die Wahrheit, sondern nur eine momentane Missstimmung, die nicht repräsentativ für eine Beziehung sein muss.
„Manchmal ist ein Paar ein einziges Chaos und jeder fühlt sich verloren, oder? Und manchmal kämpfen wir miteinander, manchmal kämpfen wir allein, und manchmal kämpfen wir gegeneinander. Das passiert“, argumentiert Sandra. „Und trotzdem fühlt sich ein Paar verbunden. Doch wie kann man eine Seelenverwandtschaft beweisen?“
Gleichzeitig ist Sandra Hüllers mimisches Spiel zwischen Verletztsein und selbstbewusster Gelassenheit derart ambivalent, dass sie ständig wie auch die geschliffene Rhetorik von Staatsanwalt und Verteidiger zwischen Schuld und Unschuld chargiert. Eine Überraschung jagt die andere. Das Publikum, immer wieder durch Zooms der Kamera miteinbezogen, ist höchst konzentriert, zumal sich das Netz der Indizien für einen Schuldspruch immer mehr verdichtet. Wurden hier Realitäten geschaffen, die schon literarisch durchdekliniert waren? Selbst Daniel muss in den Zeugenstand. Er bringt die Wahrheitsfrage auf den Punkt. Wenn man das Wie nicht kennt, muss man nach dem Warum fragen. Doch auch hier widersprechen die Aussagen. Das Gericht findet ein Urteil. Ob es der Wahrheit entspricht, bleibt offen.
„Anatomie eines Falls“ ist trotz der hochemotionalen Situation ein durch und durch analytischer, intellektueller Film. Zeugenaussagen, Rückblenden, Höraufnahmen, vorgelesene Textstellen aus Sandras Romanen dokumentieren völlig konträre Wahrheiten, in denen sich letztendlich unsere diverse, singuläre Gesellschaft spiegelt, in der die Menschen nur noch nach ihren individuellen Wahrnehmungspositionen handeln und das Gespür für die Menschen im engsten familiären Kontext verlieren. Die Kinder sind die Leidtragenden.
Künstlerisches Team: Justine Triet (Regie)
Mit Sandra Hüller (Ehefrau Sandra), Samuel Theis (Ehemann Samuel), Milo Machado Graner (Sohn), Swann Arlaud (Verteidiger), Antoine Reinartz (Staatsanwalt)
„Anatomie eines Falls“ ist seit Donnerstag in den deutschen Kinos zu sehen.