„Strip“, Gerhard Richter, 2023/2016©Gerhard Richter, Foto: Michaela Schabel
Gerhard Richter blickt auf sechs Jahrzehnte, in denen er sich mit den Möglichkeiten und Grenzen der Farbe auseinandersetzt, gleichzeitig mit der Problematik, ob und wie Kunst nach dem Nationalsozialismus und dem Holocaust überhaupt noch möglich ist. All die Jahre sammelte er Fotografien, Zeitungsausschnitte und Skizzen als visuelle historische und private Zeugnisse in seinem sogenannten „Atlas“, der ihm immer noch die Motive für seine Arbeiten bietet, die er aber nicht abbildet, sondern auf ganz andere, methodisch neue Weise ins Bewusstsein unserer Zeit rückt. Die einzelnen Malphasen und innovativen Impulse dieses Weges zeichnet die Ausstellung sehr eindrücklich nach.
In den 1960er Jahren begann Gerhard Richter, nachdem er seine ersten Arbeiten „Erschießung“ und „Hitler“ aus dem Jahr 1962 zerstört hatte, nach Fotografien in feinen Graubabstufungen zu malen. Die Bilder wirken wie verblasste Erinnerungen von „Tante Marianne“, „Onkel Rudi“ oder „Herr Heyde“. Dann begann er wie bei dem Motiv „Schädel“ die Unschärfe zu steigern. Er verwischte die frische Ölfarbe, um seine Verweigerung der direkten Abbildung noch stärker zum Ausdruck zu bringen. In den 1990er Jahren begann er die Fotografien immer stärker zu übermalen, bis sie schließlich zum völligen Abstraktum wurden, in der Ausstellung durch umfangreiche kleinformatige bis auf Postkartengröße reduzierte „Abstrakta“-Serien dokumentiert.
Politische Übermalungen verwarf Gerhard Richter vorerst und gestaltete stattdessen für den Deutschen Bundestag „Schwarz, Rot, Gold“ (1999) aus farbemaillierten Glasplatten als Zeichen des politischen Neuanfangs. Ein kleinformatiges Pendant aus demselben Jahr vermittelt in der Ausstellung einen Eindruck davon.
2014 begann er über vier Fotografien aus dem Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, von einem jüdischen Häftling 1944 unter Lebensgefahr aufgenommen, die Möglichkeiten das Grauen durch mehrmalige Übermalungen mit Kohle und Öl darzustellen. Reduziert auf die Farben Schwarz, Grau, Weiß, Rot und Grün mit einem Rakel dick, in mehreren Schichten aufgetragen, vermischt, immer wieder zerkratzt, zerfurcht und aufgerissen, geht von diesen Bildern eine ergreifende Melancholie aus, deren Energie mehr zum Innehalten zwingt als jegliches realistische Abbild des Holocausts. Grün nur in Restbeständen vom desolaten Grau dominiert, scheint zu verschwinden. Rot blutet. Nichts ist konkret zu sehen und trotzdem läuft im Gehirn ein Film ab, der plötzlich verblasst, blickt man in den ebenso großen „Grey Mirror“ vis-á-vis, der den Zyklus „Birkenau“ gleichsam wie aus weiter Distanz nur schemenhaft spiegelt und gleichzeitig den Betrachter mit seinen persönlichen Erinnerungsprozessen konfrontiert, der Höhepunkt der Ausstellung.
„Birkenau“ gespiegelt in „Grey Mirror“, Gerhard Richter (2014)©Gerhard Richter, Foto: Michaela Schabel
Wie stark und unterschiedlich Farbwirkungen emotionalisieren, spürt man durch andere, ebenso große Abstrakta, die in der Ausstellung zu sehen sind. Gelb wird zum Seelenaufheller, Blau initiiert Weite im Kopf, aber eben nur für wenige Momente, weil das Auge immer wieder der symbiotischen Wucht der Farben folgt. Gegenüber diesen erodierten Großformaten wirken die kleinformatigen Abstrakta der Serie „Mood“ (2022) mit Glasmalfarbe auf Papier gemalt durch ihre strahlenden Farben sehr ästhetisch und beruhigend.
Gerhard Richters zweite methodische Experimentierschiene entstand Mitte der 1960er Jahre durch seine Faszination für die Farbmusterkarten im Fachhandel. Die Farbquadrate hatten fern von emotionalen und farbsymbolischen, expressiven Deutungen nur den Zweck der Farbunterscheidung. Bis 1974 arbeitete Gerhard Richter an zufälligen Variationen verschieden strenger Farbfeldverteilungen. 2007 griff er das Thema in seinem monumentalen Werk „4900 Farben“ wieder auf, das aus 196 quadratischen Einzeltafeln besteht, die wiederum in 25 Farbquadrate unterteilt sind.
„4900 Farben“,Gerhard Richter, 2007©Gerhard Richter, Foto: Michaela Schabel
Bei „Strip“ (2013/2016) dagegen wurde das Bild durch ein computergesteuertes Verfahren in immer kleinere Segmente zerlegt, durch Spiegelungen der Bildlänge vergrößert und dabei Teilstücke neu arrangiert.
Gemeinsamer Nenner aller Arbeiten ist das ständige Forschen und Hinterfragen, wie Kunst die Welt abbilden und durch die Symbiose Zufall und Ordnungsprinzipien weiterentwickelt werden kann.
Die Ausstellung „Gerhard Richter. 100 Werke für Berlin“ ist in der Neuen Nationalgalerie in Berlin noch bis 2026 zu sehen.