©Herder Verlag, 2023
Vor dem Versöhnen mit anderen steht die Vergebung, und zwar gegenüber sich selbst. „Wer sich den eigenen Unzulänglichkeiten nicht stellt, projiziert sie auf die anderen.“ Man muss die Illusionen über sich selbst, Anselm Grün nennt sie „Schatten“, ergründen, verstehen, akzeptieren und loslassen, weil man sie ohnehin nicht erfüllen kann. Das schafft Distanz und Verständnis. Beides ist die Voraussetzung andere Menschen samt ihren Unstimmigkeiten und Abgründen akzeptieren zu können.
Der Alltag sieht anders aus. Statt zu äußern, dass man sich verletzt fühlt, was schon der Versöhnungsweg ist, werden Vorwürfe gemacht, die noch mehr verletzen und imgrunde nur die Spiegelungen der eigenen Vorstellungen und Dogmata sind. Wer Rachegedanken hegt, muss sie reflektieren und diese Dämonen ziehen lassen. Mit Rache schadet man nur sich selbst.
In fünf Schritten zeigt Anselm Grün wie Vergeben funktioniert. Es basiert auf dem Weggeben der eigenen Verletztheit. Man muss die Verletzung zugeben, den Schmerz artikulieren und verstehen lernen. Dadurch kann man sich von der negativen Energie befreien und vergeben. So wird „die Wunde zur Perle“, die man als besondere Fähigkeit zu schätzen lernt.
Vergeben ist ein individueller Prozess, Versöhnen geht nur in der Interaktion von beiden Seiten. Am leichtesten ist es, wenn man in der Mitte verortet ist, nicht mittelmäßig, sondern fern extremer Standpunkte. Dann ist man offen nach allen Seiten und kann vieles verstehen. Der entscheidende Punkt ist das Mitfühlen anstelle der Bewertung. Das gilt auf allen persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Ebenen der Versöhnung. Unsere Gesellschaft wird immer vielfältiger. Werden die damit verbundenen Ambivalenzen nur wahrgenommen, nachgefühlt, aber nicht bewertet, gibt es weniger soziale Spannungen. Unsere Sprache verrät, ob wir spalten oder versöhnen. Jeder kann dazu beitragen, dass die Kommunikation und das Verständnis füreinander besser werden. Die ganze Schöpfung leidet unter dem Fehlverhalten infolge Geldgier und Ausbeutung der Menschen.
Das Kraftzentrum der Versöhnung liegt nach Anselm Grün im Gefühl der Liebe. Für ihn als Gläubigen ist Gott das Zentrum der Liebe und als Schlussfolgerung Versöhnung ohne Gott nicht möglich. „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, heißt es im Evangelium nach Matthäus Kapitel 22 und Anselm von Grün ergänzt „Gott ist der Grund unseres Seins“. Gott in uns, gibt uns die Kraft, weder sich selbst noch andere zu beurteilen, sondern auf die Versöhnung bei den Menschen, mit Gott und dem ganzen Kosmos zu zielen.
Als „Vorbilder der Versöhnung“ bringt Anselm Grün die Geschichten ein von „Jakob und Esau“, „Josef und seine Brüder“, „Die Gemeinde in Antiochien“, „Saul und David“. Nur in der letzten Geschichte funktioniert Versöhnung nicht, weil Saul pathologisch hasst und depressiv nicht mehr die Kraft und Größe hat gegen die eigenen Schatten zu kämpfen. Hass macht Versöhnung unmöglich. Die Veränderung des eigenen Denkens und Handelns ermöglicht bei geeignetem Partner „Früchte der Versöhnung“ und „jede Versöhnung ist ein Neuanfang“. Das alles ist nichts Neues, aber durchaus sinnvoll, es immer wieder zu reflektieren, egal ob man an Gott glaubt oder nicht, gerade angesichts der gegenwärtigen klein- und großpolitischen Lage, in der Hass Versöhnung verhindert.
Anselm Grün „Zeit für Versöhnung, Spaltung überwinden, Begegnung wagen“, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2023, 155 S.