©Florian Hofmeister, 2022 Focus Features. LLC.
„Tár“ ist alles andere als ein Mainstreamfilm. Sehr differenziert thematisiert Todd Field nicht nur Cancel Culture, sondern auch den Umgang mit klassischer Musik. Selbst wenn man das musikalische Fachvokabular nicht kennt, findet man sich schnell in einer spannenden Geschichte.
Fünf Jahre hat Lydia Tár bei den Peruindios gelebt, ihre naturnahen Gesänge, die immer wieder anklingen, lieben und verstehen gelernt. Jetzt ist sie als Dirigentin der Berliner Philharmoniker, Preisträgerin, Komponistin und Buchautorin als weltbeste Maestra auf dem Gipfelpunkt ihrer Karriere und wird bald das Gesamtwerk Mahlers aufführen. Lydia Tár ist klug, schön, überaus musikalisch, hat ein ausgezeichnetes Gehör und überrascht mit vulkanischer Leidenschaftlichkeit. Hinter dieser Glanzfolie entdeckt der Film eine hoch disziplinierte, gnadenlos an sich arbeitende Persönlichkeit, die regelmäßig joggt und boxt, eine taffe Karrierefrau, die den Moderator in die Enge treibt, selbstbewusst auf Gendern verzichtet, eine couragierte Mutter, die ihr Kind mit ein paar Sätzen vor der mobbenden Schulkameradin schützt, vor allem eine Dirigentin, die knallhart ihre musikalischen Vorstellungen umsetzt. Sie handelt ohne zu fragen, setzt die Menschen rhetorisch Schach matt, misstraut selbst den engsten Mitarbeiten, entlässt ihre Assistentin (Noémie Merlant), wird selbst zum Opfer von Verleumdung, dreht durch und fängt wieder ganz unten an.
Über diese Facetten kristallisiert Todd Fields ganz unterschiedliche gesellschaftliche Problemebenen heraus. Lydia Tár ist der männliche Part in der queeren Beziehung zu Sharon (Nina Hoss) und übernimmt dabei die klassisch männlichen Rollenmuster, den beschützenden Vater, den smarten Ellenbogen-Karriereboss, dem die eigenen Ziele wichtiger als Menschen sind, der sich rücksichtslos von seiner neuen Muse inspirieren lässt und dabei die Familie an die Wand fährt.
So ist es kein Wunder, dass enttäuschte Mitarbeiter durch die Möglichkeiten der sozialen Medien zu gefährlichen Mobbern mutieren. Ist Tár trotz ihrer Brillanz eine Gefahr für das Orchester? Todd Field malt nicht Schwarz-Weiß. Ob die sexuellen Belästigungen in den Videos echt oder aus dem Zusammenhang gerissen manipuliert sind, überlässt er der Beurteilung der Zuschauer, die plötzlich merken, wie schwierig derartige Sachlagen zu beurteilen sind.
Auch auf der musikalischen Ebene spiegeln sich die menschlichen Probleme und gesellschaftlichen Veränderungen. Während Tár mit dem Dirigentenstab und ihrer ganzen Musikalität um den besten Klang für Gustav Mahlers fünfte Sinfonie ringt, den Klang, der die Leidenschaft zwischen Mahler und Alma, der er das Werk widmete, ausdrückt, schlägt sie in der Orchesterfamilie und in der Talentakademie enorme personelle Wunden. Sie weicht keinen Millimeter von ihrer klassischen Musikvorstellung ab. Wer anders denkt, wird ausgebremst und entfernt. Doch in den Orchesterproben und den anonymisierten Vorspielszenen hinter einer Wand, beginnt man auch als Nichtexperte die Unterschiede klassischer Interpretationen zu hören und man ist berührt von der glühenden Tiefe, wenn es klingt, wie es klingen soll. Dann ist auch das Orchester beglückt.
Diese musikalischen Höhepunkte gehen mit personellen Euphorien und Enttäuschungen einher. Wortlos, nur über Blickachsen von der Kamera eingefangen, großartig von Nina Hoss und Cate Blanchett gespielt, entstehen Konkurrenzen und Missverständnisse. Nur eine Note um einen Halbton erhöht verändert die neue Cellistin Olga aus Russland Társ Hauptthema einer noch unvollständigen Komposition. Mit Sophie Kauer besetzt, preisgekrönte britische Cellistin erstmals vor der Kamera, bringt Todd Field den Generationenwechsel mit ein. Tár sieht Olga schon als neue Muse. Olga hat indes ganz andere Interessen. Als Tár gleichzeitig für den Selbstmord einer einstigen Musikerin in die Verantwortung genommen und ihre Integrität in Frage gestellt wird, wird ihr Leben trotz oder gerade wegen des immer häufiger werdenden Griffs zu Tabletten zum Horrortrip. Ein Unfall im verrotteten Neukölln ist der Anfang. „Heute ist man schon durch die Beschuldigung schuldig“. Ist Lydia Tár Täterin oder Opfer? Beides! Wenn sie am Schluss ein Orchester aus Videospielmusikern auf den Philippinen vor Gästen in bizarren Kostümen dirigiert, kulminiert die Belebung klassischer Musik zur Groteske weit entfernt Társ Visionen und doch resistent gegen alle Widerstände.
Künstlerisches Team: Todd Field (Drehbuch, Regie), Hildur Guōnadóttir (Komponist), Natalie Murray Beale (Musikalische Leiterin), Florian Hoffmeister (Chef-Kameramann), Monika Willi (Chef-Cutter), Bina Daigeler (Chef-Kostüme)