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Berlin – Annie Ernaux’ „Das Ereignis“ im Berliner Ensemble

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Berlin – Annie Ernaux’ „Das Ereignis“ im Berliner Ensemble

©JR Berliner Ensemble

Kathrin Wehlisch übernimmt die distanzierte Perspektive von Annie Ernaux im Alter. Mit kurzen dunklen Haaren im Hosenanzug gibt sie ihr eine burschikose, männlich selbstbewusste Wirkung. Sie hat auch einiges mutig hinter sich gebracht. Über ein halbes Jahrhundert liegen die Erfahrungen der illegalen Abtreibung hinter ihr. Jetzt versucht sie  sich zu erinnern, die Wahrheit zu finden, von der sie sagen kann, „das ist es“. Die Vergangenheit ist durch das simultane Spiel ständig präsent. Nina Bruns spiegelt in Rock und T-Shirt, langen Locken die junge, mädchenhafte Annie Ernaux, Pauline Knof in Hose und Bluse und blond eine elegante Lady im mittleren Alter. Spiel und Monolog fließen alternierend ineinander, beleuchten das Geschehen als retrospektive Erzählung in expressiven Spielszenen. Wenn Nina Bruns ein Höschen nach dem anderen auszieht, nach dem Menstruationsblut sucht, dass sich einfach nicht einstellen will, wie Katrin Wehlisch erzählt, dabei einen Schlüpfer nach dem anderen auf die Wäscheleine quer über die Bühne hängt oder Pauline Knof auf dem Resopalküchentisch mit gespreizten Beinen wie ein Opferlamm liegt, entstehen starke Szenen. 

Die Annie-Ernaux-Versionen verharren still, jedes Wort in seiner Bedeutung  in den Raum stellend, mitunter leise für das ganz genaue Zuhören über die Möglichkeiten der Abtreibung von den Stricknadeln bis zur Sonde und explosiv laut als Ausdruck der Pein, Scham und Schmerzen, sich wild in die Silberfolie zum Schutz einwickelnd und ausgelassen tanzend zu „I´ve a had a hammer.“

Annie Ernaux erzählt von der Arroganz der Ärzte, von der Tortour und tödlichen Gefährlichkeit der Abtreibungspraktiken und vor allem immer wieder von der sozialen Diskriminierung. Eine Frau, die abtreiben wollte, wurde automatisch dem Arbeitermilieu mit fehlendem Bildungs- und Werteniveau zugeordnet. „Im Sex hatte mich die Vergangenheit (meiner Herkunft) wieder eingeholt.“ Staub wurde aufgewirbelt. Jetzt auf der Bühne ist es Erde. Sie beschmutzt die weißen Stoffe. Pauline Knof lässt Erde in ihre Hose rieseln, bis  ihre Figur eine schwangere Optik annimmt. In Annie Ernaux’ Körper lebte der Fötus trotz Abtreibung weiter, wodurch die ganze Prozedur wiederholt werden musste.

Annie Ernaux "Das Ereignis" im Berliner Ensemble präsentiert von www.schabel-kultur-blog.

©JR Berliner Ensemble

Die Abtreibung gelingt schließlich. Annie Ernaux hat sie überlebt und all die damit verbundenen Qualen. Es war nicht nur eine körperliche, sondern vor allem eine menschliche Erfahrung. „In jenem Moment habe ich meine Mutter in mir getötet.“ Die Erde wird zusammengekehrt. Darunter blitzt der Boden wieder silbern. 

Lange hat Annie Ernaux darüber geschwiegen. Aber „die Dinge sind mir passiert, damit ich davon berichte.“ Jetzt im Alter nach der Verleihung des Nobelpreises im vergangenen Herbst plötzlich der Privatheit entrissen eine „öffentliche Frau“ rückt sie die Problematik der Abtreibung in das Bewusstsein eines großen Publikums. „Das Ereignis“ berührt, weil sie alles selbst zwischen Tod und Befreiung erlebt hat. 

Künstlerisches Team: Laura Linnenbaum, (Bühnenfassung, Regie), Amely Joana Haag (Bühnenfassung, Dramaturgie), Daniel Roskamp (Bühne), Michaela Kratzer (Kostüme), David Rimsky-Korsakow (Musik), Rainer Casper (Licht), 

Es spielen: Nina Bruns, Pauline Knof, Kathrin Wehlisch