©Oberammergauer Passionsspiele 2022, Arno Declair
Nach einem kurzen Prolog über die Entstehungsgeschichte des Gelöbnisses die Passionsgeschichte regelmäßig aufzuführen, wird sie in 12 Kapiteln vom Einzug Jesu auf dem Esel in Jerusalem bis zur Kreuzigung in monumentalen Massenszenen erzählt.
Für die 1400 Mitwirkenden und zum leichteren Verständnis der 4400 internationalen Besucher pro Aufführung hat Stückl eine klare Struktur erarbeitet. Schon an den Farben der wallenden Kostüme erkennt man die verschiedenen Volksgruppen. In lehmiges Braun gekleidet unterscheiden sich Jesus und seine Apostel vom Volk in etwas anderen Braunschattierungen. Hohe Priester und Schriftgelehrte heben sich in glänzenden Stoffen ab, weiß die Priester, schwarz mit Helmen, Schutzpanzern und Lanzen die Häscher. In strengen Schwarz-Weiß-Kontrasten lassen Chor und SängerInnen an den Klerus denken, der Jesu Leiden über Jahrhunderte hinaus in Erinnerung ruft und seine hoffnungsvolle Botschaft verkündet.
Stückls Konzept folgt immer der gleichen Struktur. Nach einer kleinen Ouvertüre stimmen Chor und Solisten auf das kommende Kapitel ein, das sehr gut artikuliert, insgesamt sehr professionell, mit ausladend pathetischen Gesten von den Oberammergauern gespielt wird, umrahmt von pittoresk, souverän arrangierten Volks- und Chorgruppen, so dass die große Bühne zuerst mit Esel, dann mit Pferden und Schafen wie ein cinematisches Historienspektakel wirkt. In diese Panoramabilder baut Stückl handlungsintensive Momente ein, die sich von den ersten öffentlichen Konfrontationen im Tempel bis zur Verurteilung theatralisch steigern…
©Oberammergauer Passionsspiele 2022, Arno Declair
…und entlang des Leidenswegs Jesu den hämischen Sadismus der römischen Soldaten brutal erleben lassen.
©Oberammergauer Passionsspiele 2022, Arno Declair
Judas Selbstmord wird wie in einem Beckett-Stück existenziell verfremdet. Die Kreuzigung kommt mit naturalistischer Detailtreue auf die Bühne.
Man kennt die Geschichte. Doch was ist neu 2022? Stückl selbst ist es sehr wichtig, Jesus als Juden zu zeigen, der stark in den jüdischen Ritualen verankert ist, um mit den jüdisch-christlichen Ressentiments aufzuräumen. Ganz innige Momente entstehen, wenn die Apostel hebräisch sprechen, Jesus das „Sch’ma Israel“ anstimmt und beim Abendmahl der 7-armige Kerzenleuchter, Symbol des Judentums, auf dem Tisch flackert.
©Oberammergauer Passionsspiele 2022, Arno Declair
Im Vorfeld sprach Stückl von einem „strengeren Jesus“ und das ist er in der Tat. Rebellisch tritt er auf, hart diskutiert er mit den Schriftgelehrten, schreit seine Botschaft wie ein Sozialrevolutionär hinaus. Man fühlt sich an José Saramagos Interpretation „Das Evangelium des Jesus Christus“ (1991) erinnert. Stückls Textversion rückt die Vorstellung von einer sozial gerechteren Gesellschaft mit theatralen Mitteln in den Mittelpunkt. „Ihr habt gehört, dass die Herrscher ihre Völker niederhalten und die Mächtigen ihnen Gewalt antun“. Dass Stückl den römischen Kaiser irre lachen lässt, reiht ihn in die Ahnengalerie von Shakespeares Herrscher-Psychoten ein, inklusive der gegenwärtiger Despoten. „Selig sind die, die Frieden stiften.“ Doch die Friedensstifter werden ans Kreuz genagelt. Assoziationen zu unserem Weltgeschehen bieten sich ständig an.
Die in der Tradition der Passionsspiele verankerten lebenden Bilder zu den charismatischen Geschichten des Alten Testaments erstrahlen in leuchtenden Farben. Doch der Vorhang gibt den Blick auf das Innere des Tempels mit dem „Goldenen Kalb“ oder „Brennenden Dornbusch“ nur ganz kurze Zeit frei, als ob die Botschaft dieser Bilder ihre Magie schon verloren hätten. Die Welt außerhalb des Tempels wird immer dunkler und grauer. Stückls dieses Mal so rebellischer, aber auch verzweifelter Jesus wirkt, als wüsste er, dass sich die Welt nicht ändern wird. „Gesegnet sei das Herz, das Würde bewahrt!“ Dieser Satz, den Stückl Apostel Thomas formulieren lässt, schwingt nach.
Bei so vielen Mitwirkenden, drei- bis sechsfachen Besetzungen wäre es unfair, einige hervorzuheben. Das Engagement aller zählt und gerade die laienhaften Momente geben den Passionsspielen eine im Volk geerdete Aura. Durch das Zusammenspiel aller Mitwirkenden sind die „Oberammergauer Passionsspiele 2022“ das, was sie sind, einmalig und eine ernste Auseinandersetzung mit der Frage, wer war Jesus. Die Passionspiele 2022 wirken nach und machen nachdenklich, egal ob man gläubig ist oder nicht.
Das Gelöbnis
Seit 400 Jahren wird die Leidensgeschichte Jesu in Oberammergau aufgeführt. 1633 gelobten die Oberammergauer, das Leben und Sterben Jesu Christi regelmäßig auf die Bühne zu bringen, wenn die Pest endlich aufhöre, die Menschen dahinzuraffen. 1634 wurde die Passionsgeschichte zum ersten Mal gespielt, seit 1680 im 10-Jahres-Rhythmus, 200 Jahre lang auf dem Friedhof neben der Kirche, ab 1900 auf dem Platz, wo nun das Festpielhaus steht. Nur zweimal wegen der Spanischen Grippe und Corona wurden die Passionsspiele verschoben.
Christian Stückl
ist in Oberammergau geboren und machte schon als 8-Jähriger mit. Als Jugendlicher wurde er den Passionsspielen gegenüber kritischer. Er wollte manches anders machen und übernahm deshalb 1990 die Inszenierung der Passionsspiele. Die Anti-Judaismen aus der Jesusgeschichte zu entfernen, war ihm ein großes Anliegen. Während Stückls Intendanz erreichten einige Frauen aus Oberammergau gerichtlich das Recht mitspielen zu dürfen, was in früheren Zeiten nicht erlaubt war.
Stückls persönliche Einstellung zur Passionsgeschichte hat sich durch die Skandale in der katholischen Kirche selbst sehr verändert, nichtsdestotrotz sind ihm die Passionsspiele eine Herzensangelegenheit.