©Residenztheater München, Foto: Birgit Hupfeld
Auf kleinen Podesten mitten durch die Zuschauerreihen kommt Tessa, die junge Staranwältin auf die Bühne. Mit Lea Ruckpaul ist sie jung, schön, klug, eloquent. Man merkt ihr…
ihre unterprivilegierte Herkunft nicht an. Aus kleinen Verhältnisse hat sie sich hochgearbeitet und ihre dynamische Rolle als Erfolgsanwältin völlig internalisiert. Im Rahmen der MeToo-Anschuldigungen rettet sie selbst die aussichtslosesten Fälle, denn es gibt keine Wahrheit, so wurde es ihr im Studium eingetrichtert, nur um die juristische Argumentation. Es geht hier nicht um Gefühle bei einer Verhandlung, vielmehr um ein „Spiel der Gesetze“, bei dem allerdings die Opfer-Täter-Rolle zu Ungunsten der Frauen verdreht wird. Es gilt der „prima-facie-Beweis“, weil der Sachverhalt auf einer typischen Lebenslauferfahrung erfolgt. Wenn Mann und Frau sich sympathisch finden, feiern, trinken, Sex haben, der aus Sicht der Frau in eine Vergewaltigung mündet, aber im betrunkenen Zustand alle Zeichen ein eineinvernehmliches Verhalten signalisieren, hat die Frau mit ihrer Klage in einer männerdominierten Justiz keine Chance.
Mit „Prima Facie“ zielte die australisch-britische Dramatikerin, Drehbuchautorin und ehemalige Anwältin 2019 genau in die Problematik der MeToo-Bewegung. Seitdem ist das Stück ein Dauerrenner an großen und kleinen Häusern. Es ist reizvoll diesen starken Monolog mit verschiedenen Schauspielerinnen in unterschiedlichen Bühnenästhetiken zu erleben. beispielsweise in den Kammerspielen Landshut, https://schabel-kultur-blog.de/theater/landshut-suzi-millers-prima-facie-spannend-im-kleinen-theater-kammerspiele-landshut-inszeniert/
Am Residenztheater in München gibt es neun Monate nach der Premiere immer noch Standing Ovations für Lea Ruckpaul. Unter der Regie von Nora Schlocker gelingt ihr ein mitreißender Abend. Durch verschiedene Tonlagen verdichtet sie den eineinhalbstündigen Monolog durch dramatische Dialoge. Wenn sie mit dem Bogen über das Cello streicht, werden die subtilen dissonanten Empfindungen dieser Staranwältin sehr poetisch hörbar, die allerdings durch eingespielte wuchtige Technobeats überlagert werden, die den psychischen Druck des Geschehens, der sich plötzlich zusammenbraut, vorwegnehmen. Vor einer weißen, gerundeten Panoramafläche, Symbol unbeschriebener Unschuld, bedarf es nur einiger Kisten voller Akten, darüber einer Matratze mir einer weißen Bettdecke und raffinierter Lichtfenster, um Räumlichkeiten und Begegnungen zu imaginieren. Im schwarzen Talar mit weißen Kragen, zusammengebundenen Haaren verwandelt sich Ruckpaul von der perfekt performten Anwältin im Handumdrehen in eine verführerische junge Frau. Offene Haare, eine entblößte Schulter genügen, um Sex im Büro mit einem Kollegen assoziieren zu lassen. Ruckpaul weiß den alkoholischen Absturz und das Drama einer Vergewaltigung ohne narzistische Extrovertiertheit in authentischer Selbstreflexion zu vermitteln. Aus Tessa, abgeleitet vom griechischen Wort thera, der Jägerin, wird vor Gericht eine unschuldig Gejagte.
©Residenztheater München, Foto: Birgit Hupfeld
Völlig verzweifelt wirft sie revoltierend die Aktenkartons vom Bühnenpodest und hängt dafür historische Porträts von Richtern auf, womit sie ihre Anklage eines Kollegen raffiniert auf die ganze Justizgeschichte weitet. Kein Wunder, dass Frauen zuerst aufstehen, um zu applaudieren.
Künstlerisches Team: Nora Schlocker (Inszenierung), Mari Caroline Rössle (Bühne, Kostüme), Albrecht Ziepert (Musik), Gerrit Jurda (Licht), Almut Wagner (Dramaturgie)
Mit: Lea Ruckpau
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