"Kultur macht glücklich"


München – Branden Jacobs-Jenkins „Appropriate (Was sich gehört)“ im Volkstheater 

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München – Branden Jacobs-Jenkins „Appropriate (Was sich gehört)“ im Volkstheater 

©Volkstheater München, Foto: Arno Declair

Das Bühnenbild, ein Wald leicht gerundet, davor eine Lichtung mit großen umgestürzten Baumstämme, dahinter verborgen ein See suggeriert Natur pur. Bei Italo-Western-Musik und Zikadengezirpe fühlt man sich…

atmosphärisch wie im Kino. Wie einen Film konzipiert Christian Stückl Branden Jacobs-Jenkins US-amerikanisches Familiendrama „Appropriate (Was sich gehört)“ auf die Bühne des Volkstheaters. Holzschnittartig präsentiert er ein schräges Figurenkabinett über zwei Generationen misslungener Sozialisation, über historischen und gelebten Rassismus. 

Weil der Vater gestorben ist und das einstige Landhaus versteigert werden soll, treffen sich seine drei erwachsenen Kinder nach Jahren der Trennung. Toni, die älteste Tochter, geschieden, ein fast erwachsener Sohn, pflegte den kranken Vater. Ihr Bruder Bo, Jurist, ist mit seiner jüdischen Frau und der Teenie-Tochter aus New York angereist. Frank, der jüngere Bruder, alkohol-, drogenabhängig mit Sexaffairen, gecoacht von seiner Freundin River mit schamanischem Hintergrund taucht nach jahrelangem Verschwundensein plötzlich wieder auf. Alle drei hoffen durch den Verkauf des Landhauses auf ein reiches Erbe. Doch angesichts der Schuldenbelastung bleibt kein Gewinn. Die Nerven liegen blank. Jeder sucht die Schuld beim anderen. 

Stückl legt die drei Geschwister als grundverschiedene Charaktere an, die allerdings alle nur um ihr eigenes Ego kreisen, allen voran Lola Dockhorn als aggressiv hysterische Toni, die ihre jüdische Schwägerin (Carolin Hartmann) rassistisch beleidigt, ohne sich entschuldigen zu können. Erst die durch Einsicht in die eigene Verlassenheit wirkt sie zwischendurch etwas sympathischer. Ihre Brüder, Pascal Fligg als Bo und Jawad Rajpoor als Frank, bringen überzeugend die gesellschaftliche Polarität zwischen Erfolg und Absturz ein. Je mehr die Auseinandersetzungen eskalieren, umso verständlicher wird, warum sie so egozentrisch und stur geworden sind. Es fehlten einfach positive Vorbilder bei der Sozialisation, wie sich später herausstellt. 

Befeuert wird die Situation durch die Enkelkinder, die auf Distanz zu ihren Eltern gehen. Tonis fetter, lethargischer, sich selbst befriedigender Sohn (Lasse Stadelmann) und Bos Tochter (Gio Yoo), ein modisches Girlie sind auf dem besten Weg internetsüchtig zu werden. Allein Franks Freundin River, von Marlene Markt als überdrehte Schamanin interpretiert, setzt witzige und entspannende Akzente im hyperhysterischen, amerikanisierten Geschrei der Geschwister. 

Eine zweite Eskalationsstufe erfolgt, als ein altes Fotoalbum über Lynchmorde und Einmachgläser mit präparierten menschlichen „Souvenirs“ gefunden wird. Wer war dieser Vater? Ein rassistischer Herrenmensch? Stehen Kinder und Enkelkinder auf einem Massengrab von Sklaven? Über großräumige Projektionen beginnt der Wald sepiafarben zu flirren, wirkt das Laub Blut getränkt, werden die Fotografien zu dokumentarischen, bedrückenden Sequenzen über die Rassenverfolgung in den Südstaaten. Kombiniert mit Aufnahmen über die Jagd auf Indianer und die despektierliche Ausgrenzung der jüdischen Schwägerin fokussiert Stückl auf den amerikanischen Rassismus über Generationen hinweg. 

Als Tonis Sohn über Internetrecherchen den Wert dieser Liebhaberfotos herausfindet, explodiert die Situation. Jeder gegen jeden, bis zur Prügelei. In einer psychischen Befreigungsaktion wirft Frank in seiner nichtwissenden Naivität das Fotoalbum in den See und besiegelt damit die monetäre Katastrophe. Seine Hoffnung, dass sich der Mensch wieder zurechtbiegen kann, wenn er nur will, zerbricht. Gerade er, der sich als einziger unter dem Einfluss seiner spiritistischen Freundin entschuldigt, zerstört die letzte Chance. „The American Dream“ ist, wie so oft in der amerikanischen Literatur, ein freier Fall in die Asozialität, symptomatisch für eine Gesellschaft von Egozentrikern, der jegliches Mitgefühl und das Ritual ehrlicher Entschuldigung abhanden gekommen ist. 

Ganz im Duktus amerikanischer Familiendramen gespielt und in Szene gesetzt, mag man mehr oder weniger begeistert sein. Unabhängig davon überzeugt die Inszenierung vor allem durch die Infragestellung der weitergegebenen Sozialisationsmuster. „Was sich gehört“, so die Botschaft, lernt man durch Vorbilder. Sich zu entschuldigen, eines der ältesten Rituale der Menschheit wurde in dieser Familie nicht vorgelebt. Stückl weitet den Blickwinkel. Nicht nur persönliche, sondern auch die kollektive Entschuldigung ist in allen Bereichen des Rassismus unumgänglich. 

Künstlerisches Team: Christian Stückl (Regie), Stefan Hageneier (Bühne), Tom Zimmer (Musik), Max Bloching (Video), Anton Burgstaller (Lichtdesign), Anouk Kesou (Dramaturgie)