©Deutsches Theater Berlin, Foto: Heike Walkenhorst
In einer spießigen Showrunde, wie in den Anfängen des Fernsehens in den 1960er Jahren, findet sich ein literarisches Sextett ein, um über ein Buch zu diskutieren,…
das man gar nicht lesen kann, aber unbedingt lesen will. Gemeint ist Stanislaw Lems Essay über „Eine Minute der Menschheit“ (1983), in dem er hinterfragt, ob aufgrund von Big-Data gesellschaftliche Veränderungen erfolgen. Lem agiert als Rezensent eines fiktiven Big-Data-Bandes des ebenso fiktiven Autorenduos J. und J. Johnson, um mit Hilfe von statistischen Daten, komprimiert auf 60 Sekunden, die Grenzen und Absurditäten technologischen Fortschritts aufzuzeigen. Das klingt kompliziert und ist es auch, ein idealer Stoff für Regisseurin Anita Vulesica.
Gemeinsam mit Dramaturgin Lilly Busch dramatisierte sie Lems Essay als Steilvorlage für eine extrem überzogene Groteske in sich steigernder Wiederholungsschleifen. Zum Todlachen für die einen, von ermüdender Langeweile für andere.
Vulesica splittet die Rolle des Rezensenten in ein hochkarätiges und skurriles Honoratori:nnen-Sextett, das sich unter der Leitung des überaus versierten Moderators (Go Jo Go Missinger) auf dem „76. Weltkongress für Zukunde und Temporistik“ zur Buchrezension trifft und die Statistiken über Tod, Fortpflanzung, Überbevölkerung, Ressourcenknappheit kommentiert, aber auch über die Kirchensteuer, die Anzahl der verspeisten Tiere und die Kunst. 60 Sekunden lange Aktionen, als Statistiken weltweit erfasst, spiegeln die weltweit desaströsen Verhältnisse mit einem ernüchternden Blick auf die Menschheit und ihre Weiterentwicklung.
Die schauspielerische Leistung ist zweifelsohne exzellent, überdreht bis zum Anschlag und wirkt durch eine Mixtur unterschiedlichster Kostümstile, in denen sich der Lifestyle der 1960er und 1970er Jahre spiegelt, noch schräger. Im rasanten Tempo, ständig eine andere Person slapstickartig im Mittelpunkt, sorgen inhaltliche Schlussfolgerungen, klamaukiges Spiel und brillantes Timing für ein Staccato von Pointen. Jeder quatscht und spielt sich eitel in den Vordergrund, ohne die Botschaften der katastrophalen Statistiken tatsächlich in ihrer Tragweite zu erfassen, nur in regelmäßigen Abständen unterbrochen von den Werbeeinlagen Prof. B.J. Manhattans (Moritz Grove), Professor für als materialistisch orientierte Zukunde, in der Optik eines Asphalt-Cowboys als Running Gag gespielt.
Dr. Wooley (Bernd Moss) nervt mit immer neuen, altmodischen Statistikplakaten, deren schwer zu verkraftende Botschaften er symbolisch im Schneckentempo von 60 Sekunden aufrollt. Dr. Sharkey (Wiebke Mollenhauer) ekelt sich hysterisch vor der Gier und Gewaltneigung der äffischen Zweibeiner. Mit pornografischen Möbel-Bauanleitungen bringt Dr.Dr. Crawley (Katrija Lehmann) das Sinnliche mit ein. Humanist Dr. Stanley, mit Frieder Langenberger in Rosa und Frühlingsgrün ein Hippie-Relikt, wirbt für „befreite Literatur…für die Liebe, das Gute, die Schönheit und die Kunst“.
Um das Desaster der Big Data auszuhalten mixt Drogenexpertin Dr. Aileen Dopamin Roger, alias Evamaria Salcher in einem blauen Jane-Fonda-Aerobic-Outfit, immer wieder einen erhellenden Cocktail für eine spirituelle Reise mit viel Raum für inszenatorische Gags.
Doch was bleibt davon im Gedächtnis hängen? Ein klamaukiger Abend, mehr nicht, was wiederum durchaus zum „Lemschen Gesetz“ passt. „Niemand liest etwas, wenn er etwas liest, versteht er es nicht, wenn er es versteht, vergisst er es sofort.“
Die Thematik ruft Vulesicas Turbo-Inszenierung von George Perecs Stück „Die Maschine – oder Über allen Wipfeln herrscht Ruh“ am Schauspielhaus Hamburg in Erinnerung, die beim diesjährigen Berliner Theatertreffen als ausgesprochen flotte Parodie auf die KI zu sehen war. „Je mehr wir wissen, desto weniger verstehen wir.“
Künstlerisches Team: Anita Vulesica (Drehbuch, Regie, Komposition), Lilly Busch (Drehbuch, Dramaturgin), Henrike Engel (Bühne), Janina Brinkmann (Kostüme), Mirjam Klebel (Choreografie), Yannik Wittmann (Komposition, musikalische Leitung), Marcel Braun (Musik), Phillip Hohenwarter (Video), Matthias Vogel (Licht)
Mit: Moritz Grove, Frieder Langenberger, Katrija Lehmann, Benjamin Lillie, Wiebke Mollenhauer, Bernd Moss, Evamaria Salcher, Brigitte Pohlmann in den Hauptrollen













